70 Jahre Grundgesetz

Bedeutung – Kontroversen – Perspektiven

Fachtagung im Haus auf der Alb in Bad Urach, 27. bis 28. März 2019

Die deutsche Verfassung hat einen „klanglosen Namen“ (Dolf Sternberger). Und doch hat das Grundgesetz, wie es seit seiner Verkündung 1949 fast lapidar heißt, die 1933 mit einem Zivilisationsbruch zerstörte Demokratie nach dem Ende der Diktatur und dem Beginn eines mühsamen Wiederaufbaus auf eine erstaunliche wandlungs- und widerstandsfähige Grundlage gestellt.

Aber 70 Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes stehen Verfassung, Demokratie und ihre Werte unter Druck. Globalisierung, demographischer Wandel, Populismus und unterschiedliche Extremismen sowie eine nicht zuletzt durch die Digitalisierung veränderte Öffentlichkeit stellen Herausforderungen für die Demokratie und ihre Verfassungsnormen dar.

Im vollbesetzten Tagungszentrum der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, dem „Haus auf der Alb“ in Bad Urach, wurden die Bedeutung der Verfassung im Rahmen der Tagung kontrovers diskutiert und weitere Perspektiven des Grundgesetzes erörtert.

LOTHAR FRICK, Direktor der LpB, übernahm die Eröffnung der Tagung. Er sieht das Jubiläum als einen Grund zum Feiern. Das Grundgesetz ist die freiheitlichste Verfassung, die Deutschland je hatte. Dennoch sollte es der Auftrag aller Bürgerinnen und Bürger sein, das Grundgesetz und unsere Demokratie zu schützen, die Werte selbst zu leben und nicht nur zu feiern.

Impulsvortrag: Zwei kleine Fragen an eine große Verfassung

Prof. Dr. Otfried Höffe, Universität Tübingen

Impulsvortrag: Zwei kleine Fragen an eine große Verfassung: Wie säkular, wie sozial muss die Demokratie in Deutschland sein?

Einleitend wurden im Impulsreferat von OTFRIED HÖFFE (Tübingen) zwei Fragen an das Grundgesetz behandelt.

Der Referent ging der Frage nach, wie säkular beziehungsweise wie sozial die Demokratie in der Bundesrepublik sein muss. Zunächst verglich er die Weimarer Verfassung und die US-amerikanische Verfassung mit dem Grundgesetz. Im Gegensatz zu unserer Verfassung wurden in beiden Verfassungen keine Änderungen vorgenommen.

Das Grundgesetz hingegen besitzt „keinen Heiligenschein“ und die Änderungsmöglichkeiten, ausgenommen die ersten 20 Artikel, halfen, die Krisen der Nachkriegszeit zu überwinden und einen demokratischen Staat zu sichern. Das Grundgesetz beruft sich auf die Verantwortung vor Gott. Wie aber ist diese Verantwortung zu verstehen?

Höffe zufolge ist dies als eine Demutsformel zu verstehen. Jedoch sollte besser auf die Formulierung verzichtet werden. Die Rechtsformel, dass alle Gewalt vom Volke ausgeht, genüge vollkommen. In der Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes finden sich das Demokratie-, Rechtsstaats- und Bundesstaatsprinzip wieder. Allerdings trifft sie nicht auf das Sozialstaatsprinzip zu. Seine Gestaltung bleibt die Aufgabe des Gesetzgebers.

Abschließend ging der Referent auf die Rolle des Bundesverfassungsgerichtes ein, das seiner These zufolge zu massiv in die Befugnisse der Legislative eingreift und zu Teilen dessen Rechte an sich gerissen hat. Das Grundgesetz gibt ihm diese Macht jedoch nicht.

Höffe kommt zum Ergebnis, dass das Grundgesetz eine großartige Verfassung ist, dennoch muss diskutiert werden, wer die Verfassung eigentlich vor ihren Hütern schützt und wer die expansive Interpretation der Verfassung durch die

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Impulsvortrag: Die Privatisierung des „Grundrechtseingriffs“

Prof. Dr. Daniela Winkler, Universität Stuttgart

Impulsvortrag: Die Privatisierung des „Grundrechtseingriffs“ – von der Abwehr- zur Schutzfunktion der Grundrechte.

Auf diesem ersten Impuls folgte der zweite von DANIELA WINKLER (Stuttgart). In ihrem Vortrag zur „Privatisierung des ‚Grundrechtseingriffs‘ – von der Abwehr- zur Schutzfunktion der Grundrechte“ ging sie auf die Herausforderungen der Grundrechtsdogmatik ein, das von jeher ein ambitioniertes Zusammenspiel mächtiger und weniger mächtiger Akteure darstellt.

Zunächst wurde die in drei Schritten unterteilte Dogmatik von Schutzbereich, Eingriff und Freiheitsraum juristisch-historisch umrissen. Der Grundrechtseingriff, der eine Verminderung des Freiheitsraums beschreibt, wirft unterschiedliche Problemebenen auf.

Erstens reagiert die Eingriffsdogmatik auf punktuelle Schutzbereichsverletzungen der Grundrechte, was zu einer verfassungsrechtlichen Überprüfung dieser Einschränkung führen kann. Dies hat zur Folge, dass durch eine empfundene zunehmende Überregulierung von der Freiheit, „alles tun und lassen zu können“, nicht mehr viel übrigbleibt. Als Beispiel nannte die Referentin die Verschärfung des Polizeirechts in Bayern und die Einführung des Begriffs der „drohenden Gefahr“, das Eingriffsschwellen senkt und Eingriffsmöglichkeiten erhöht.

Als zweite Problemebene benannte Winkler die Einschränkung des Eingriffsbegriffs auf staatliche Maßnahmen und eine zunehmende Verlagerung der Grundrechtsgeltung auf supranationale Ebene – vom Grundgesetz zur Europäischen Verfassung also.

Als dritten Punkt, der ihrer Meinung nach besondere Aufmerksamkeit verdient, merkte sie an, dass der Eingriffsbegriff an seine Grenzen stößt, wo der private Freiheitsraum nicht durch Träger hoheitlicher Gewalt, sondern durch Private (z. B. Facebook, Google, Amazon) beeinträchtigt wird.

Die Referentin kam zum Ergebnis, dass es in der Aufgabe des Staates liegt, der supranationalen Entkernung der Grundrechte die Selbstverpflichtung zur Grundrechtsgewährleistung entgegenzusetzen, das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung durchzusetzen sowie einen Blickwechsel hinsichtlich des intergenerationellen Freiheitszusammenhangs zu verwirklichen (z. B. die Freiheit, die heute zum Autofahren, Fliegen, Reisen genutzt wird, droht späteren Generationen entzogen zu werden).

Gespräch der beiden Impulsgeber

Moderation: Gigi Deppe, ARD-Rechtsredaktion (SWR)

In einem anschließenden Podiumsgespräch diskutierten Daniela Winkler und Otfried Höffe die soeben ausgeführten Probleme.

  • Die Entkernung des Grundgesetzes durch die supranationale Ebene,
  • die Ausweitung der Zuständigkeitsbereiche des Bundesverfassungsgerichts,
  • die Anpassungsfähigkeit des Grundgesetzes und
  • das Recht auf informationelle Selbstbestimmung

standen im Fokus des Gesprächs.

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Vortrag mit Diskussion: Macht Geschichte klug?

Prof. Dr. Peter Steinbach, Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin

Vortrag mit Diskussion: Macht Geschichte klug? Zeitgeschichtliche Erfahrungen und Verfassungswandel in Deutschland seit 1918

Anschließend ging PETER STEINBACH (Berlin) der Frage nach, ob Geschichte „klug macht“. Zur Beantwortung dieser Frage zog er zeitgeschichtliche Erfahrungen und den Verfassungswandel in Deutschland seit 1918 heran.

Zunächst richtete Steinbach seinen Blick auf die badische Verfassung von 1818, den Verfassungsentwurf von 1848, auf die Verfassungen von 1866/67 und 1871 sowie auf die Wandlungsfähigkeit des monarchischen Systems.

Beim Blick auf die Weimarer Verfassung vom August 1919 stand die Bereitschaft zur politischen Selbstorganisation und Selbststeuerung einer Gesellschaft im Mittelpunkt. Die Zerstörung der Weimarer Republik blieb stets kontrovers diskutiert.

Das Grundgesetz und die Verfassung der DDR verstanden sich beide als postnationalsozialistische Verfassungen. Entscheidend für die mehrheitlich positive Würdigung des Grundgesetzes war nach Ansicht des Referenten die Zeit des Nationalsozialismus und die Erfahrungen der Weimarer Republik mit problematischen Konstruktionen. Dies hat dazu geführt, dass die Grundrechtsartikel an den Anfang des Grundgesetzes gestellt wurden und dass es einen unveränderlichen Kern der Verfassung sowie ein konstruktives Misstrauensvotum gibt.

So finden sich im Grundgesetz nach einer Phase der Menschenrechtsverletzungen eine Fülle verarbeiteter Verfassungserfahrungen. Verfassungen sollen helfen, in der Zukunft Fehler zu vermeiden, die in der Vergangenheit begangen worden sind. Das Grundgesetz zöge in einigen seiner ganz wesentlichen Bestimmungen Konsequenzen aus dem Scheitern der ersten deutschen Demokratie und aus den Erfahrungen in einer totalitären Diktatur, so der Referent. Die Gefährdungserfahrung der politischen Zivilisation durch die Staatsmacht, durch geschürte Sicherheitsbedürfnisse als Folge kollektiv verstärkter Angst und Unsicherheit verweisen auf die Unabgeschlossenheit der Verfassungsentwicklung.

Steinbach kam in seinen Ausführungen zum Ergebnis, dass Geschichte klug machen kann, jedoch nicht erhaben ist, weitere Fehlentwicklungen zu verhindern. Die Aufgabe, unsere streitbare Demokratie zu sichern bzw. zu verteidigen, bleibt die höchste Aufgabe eines jeden Einzelnen.

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Vortrag mit Diskussion: Das soziale Staatsziel des Grundgesetzes

Manfred G. Schmidt, Universität Heidelberg

Vortrag mit Diskussion: Das soziale Staatsziel des Grundgesetzes

Mit dem „sozialen Staatsziels des Grundgesetztes“ stellte MANFRED G. SCHMIDT (Heidelberg) die sozialen Verpflichtungen, die unsere Verfassung mit sich bringt, vor.

In Artikel 20 Abs. 1 des Grundgesetzes steht: die Bundesrepublik Deutschland ist ein „sozialer Bundesstaat“. Außerdem gilt die „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet“ laut Artikel 72 GG. Das Grundgesetz verpflichtet die Politik auf ein Programm der Sozialstaatlichkeit. Damit übernimmt die Staatsmacht, so Schmidt, mit der Sozialpolitik „Verantwortung für die Befindlichkeit der Gesellschaft“.

Der Referent fragte, was der Gesetzgeber aus diesem Gebot des sozialen Staatsziel gemacht hat. Seiner Meinung nach wurde die Sozialpolitik in Deutschland so weit wie nie zuvor ausgebaut. Dadurch entstand einer der weltweit stärksten Sozialstaaten. Von dessen Größe zeugen auch die öffentlichen Sozialausgaben, die 2019 bei mehr als einer Billion Euro liegen werden. Dieser Auf- und Ausbau der deutschen Sozialpolitik hat einen vielgliedrigen multifunktionalen Sozialstaat hervorgebracht, der sowohl die Institutionen der sozialen Sicherung als auch die sozialpolitische Regulierung der Arbeitswelt umfasst.

Der Doppelstruktur des sozialen Ausgleichs durch Systeme der sozialen Sicherung und die Regulierung der Arbeitswelt kamen fünf Bestimmungsfaktoren als Antriebskräfte zugute:

Die wirtschaftliche Modernisierung des Landes ist weit vorangeschritten, ebenso die Alterung der Bevölkerung. Dadurch erwächst ein hoher Bedarf an sozialer Sicherung und zeitgleich werden Ressourcen für die Bedarfsdeckung verfügbar. Das immer mindestens eine der beiden großen Sozialstaatsparteien in Deutschland an der Regierung beteiligt war, sozialstaatsfreundliche Ideen und Institutionen dauerhaft existieren, gehört ebenfalls zu den zentralen Bestimmungsfaktoren.

Schmidt zufolge bewältigt der Sozialstaat seine ureigenen Schutzaufgaben insgesamt sehr gut. Die deutsche Sozialpolitik schützt zuverlässig gegen materielle Verelendung. Sie schützt ferner gegen umfangreiche Risiken, die ein Individuum nicht allein abdecken kann. Zudem hat der Sozialstaat eine extreme gesellschaftliche Ungleichheit im beträchtlichen Maße verringert. Sein Hauptziel ist die Sicherheit, nicht die Gleichheit. Zudem macht der Sozialstaat die Politik krisenfester, da er gesellschaftliche und wirtschaftliche Erschütterungen auffangen kann. Ebenso spornt der Sozialstaat die Modernisierung der Wirtschaft an.

Der Referent widerspricht der These, wonach der deutsche Sozialstaat ein allseits erfolgreicher Problemlöser sei. Gewiss löse er etliche Probleme und darf sich als ein „Produktionsfaktor“ rühmen, doch Unproduktives, Leerlauf, Ineffizienz und beträchtliche Bürokratisierung sind ihm nicht fremd. So habe er einen erheblichen Anpassungsbedarf.

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Vortrag mit Diskussion: Grundrechte und Werte

Prof. Dr. Wolfgang Ullrich, Leipzig

Vortrag mit Diskussion: Grundrechte und Werte: Warum man beides nicht miteinander gleichsetzen sollte

WOLFGANG ULRICH (Leipzig), der aus privaten Gründen nicht persönlich erscheinen konnte, stellt in seinem schriftlich vorliegenden Vortrag „Grundrechte und Werte: Warum man beides nicht miteinander gleichsetzten sollte“ die These auf, dass in einer wertethisch geprägten Gesellschaft soziale Unterschiede verstärkt und um weitere Dimensionen von Ungleichheit ergänzt werden.

Als Ausgangspunkt seines Vortrags nahm er einen Tweet von Annegret Kramp-Karrenbauer vom Februar 2019. Sie „erwarte von Menschen, die zu uns kommen, dass sie unsere Werte akzeptieren – und vor allem erwarte ich von uns selbst, dass wir dafür eintreten!“ Die Rede von Werten ist von einer doppelten Unbestimmtheit gekennzeichnet. Um einen unklaren Plural von Werten zu vermeiden, fordert der Referent eine Berufung auf das Grundgesetz, welches einen klar definierten Plural an Rechtsgütern innehat.

Auch im gesellschaftlichen Diskurs wird heutzutage eher über Werte diskutiert, da ein Gesetz keinen Gestaltungspielraum zulässt. Um ihre Unsicherheiten in ihrem Handeln zu kompensieren, mobilisieren Menschen Ressourcen und Fähigkeiten, wenn sie sich für einen Wert einsetzen wollen, der ihnen von anderen als wichtig vermittelt wurde. Das Ansehen eines Menschen als moralischer Person hängt in einer wertethisch geprägten Gesellschaft somit von der materiellen Ausrüstung ab.

Ulrich zufolge ist die heutige Konsumkultur Ausdruck dieser wertethischen Prägung und treibende Kraft vielfältiger Ungleichheit. Unterprivilegierte und Flüchtlinge haben somit nur die Möglichkeit, Werte zu akzeptieren, jedoch nicht die Möglichkeit, eigene Akzente zu setzen. Damit droht eine Werteethik zu einer Ethik der Eliten zu werden und soziale Spannungen zu erzeugen bzw. zu verstärken.

Ulrich ruft daher dazu auf, sich nicht auf Werte zu berufen, sondern auf eine Rechtsordnung, in der alle Menschen dieselben Rechte und Pflichten innehaben. Hierbei brauche es keine materiellen Voraussetzungen und Privilegien. Soziale Unterschiede spielen dabei keine Rolle und werden dadurch auch nicht vergrößert. Allein aus diesem Grund sei das Grundgesetz in einer „werteseligen“ Gesellschaft von so großer Bedeutung.

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Abendveranstaltung: WERTSACHEN – was uns zusammenhält.

Gesprächsreihe der Präsidentin des Landtags von Baden-Württemberg, Muhterem Aras MdL

MUHTEREM ARAS MdL, Präsidentin des Landtags von Baden-Württemberg, übernahm als Veranstalterin der Gesprächsreihe „WERTSACHEN – was uns zusammenhält“ das einleitende Grußwort der Abendveranstaltung, die – eingebettet in das Programm der Tagung – in der Georg-Goldstein-Schule in Bad Urach stattfand.

Sie sprach über ihre Verbindung zum Thema Heimat. Sie fühle sich da zu Hause, wo sie mit anderen Menschen die gleichen Werte teile. Unsere Verfassung ist der Quell dieser Werte. In diesem Sinne gibt ihr das Grundgesetz Heimat. Sie fordert die Bürgerinnen und Bürger auf, für die Werte unserer Verfassung von Offenheit, Gleichberechtigung, Solidarität und streitbare Demokratie einzustehen und sie zu verteidigen.

URSULA MÜNCH (TUTZING) hielt am Abend im Rahmen der Veranstaltungsreihe „WERTSACHEN – was uns zusammenhält“ einen Impulsvortrag zu „Scheinbar legale Aushöhlung verhindern: Die ‚Ewigkeitsklausel‘ im Grundgesetz“.

Artikel 79 Abs. 3 unserer Verfassung bestimmt, dass Art. 1 und Art. 20 des Grundgesetzes nicht veränderbar sind. Dies soll eine scheinbar legale Beseitigung der liberal-demokratischen Verfassungsordnung verhindern.

Die Väter und Mütter unserer Verfassung waren sich bewusst, dass eine Verfassungsregelung einen Umsturz nicht abwehren könnte, jedoch müssten sich die Feinde unserer Verbürgungen als solche zu erkennen geben. Somit ist der Artikel auch eine Antwort auf die Machtübernahme der Nationalsozialisten.

Die Bestimmung schützt das Recht auf Menschenwürde, das Bundesstaatsprinzip, das Rechtsstaatsprinzip sowie das Demokratieprinzip. Nichtsdestotrotz ist die repräsentative Demokratie auf Voraussetzungen angewiesen: und zwar nicht nur von Seiten der Politik, sondern auch der Bürgerschaft.

Münch zufolge muss die Bürgerschaft insgesamt in dem Wissen handeln, dass sie nicht nur essentielle Rechte genießt, sondern eben auch Pflichten hat. Dazu gehöre auch, gelegentlich nationale Interessen hintanzustellen, denn wenn die Fähigkeit zum Kompromiss verloren geht, geht auch der Frieden verloren.

Die Referentin beschrieb drei Aufgaben, die die heutige Gesellschaft erfüllen muss, um der Vertrauenskrise der repräsentativen Demokratie entgegenzuwirken.

  • Zum einem muss den Menschen, die unsere freiheitliche Grundordnung mit Füßen treten, mit den Mitteln des Rechtsstaats klare Grenzen aufgezeigt werden.
  • Denen, die auf autoritäre Strukturen setzen, muss konsequent gezeigt werden, zu was Machtmissbrauch und Machkonzentration zwangsläufig führen.
  • Diejenigen, die meinen, das alles gehe sie nichts an, dürfen nicht vergessen werden, da wir in den letzten Jahren diese Fehlentwicklungen zu spüren bekommen haben.

Diskussion

Nach dem Vortrag diskutierten Otfried Höffe, Ursula Münch und Johann Schimon, ein Schüler der Georg-Goldstein-Schule in Bad Urach, unter der Moderation von Gigi Deppe (SWR), wie der Vertrauenskrise der Demokratie wirksame Maßnahmen gegenübergestellt werden können.

Im Vordergrund der Diskussion stand, wie Jugendliche, Schüler und Studierende die Probleme betrachten und welche konkreten Schritte unternommen werden können, um das Desinteresse zu beseitigen und eine aktive Beteiligung herzustellen. Ebenso wurde die Vernachlässigung von Randgruppen durch die Volksparteien erörtert.

Rückblick auf den Abend in der Georg-Goldstein-Schule im Rahmen von „WERTSACHEN – Was uns zusammenhält“, der Gesprächsreihe des Landtags von Baden-Württemberg: Mehr zum Programm, Bilder von der Veranstaltung und Videos zum Abend finden Sie auf der Homepage des Landtags.
www.landtag-bw.de

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Vortrag mit Diskussion: 70 Jahre Bundesrepublik

Dr. Thomas Hertfelder, Geschäftsführer der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Stuttgart

Vortrag mit Diskussion: 70 Jahre Bundesrepublik. Aufstieg und Krise einer historischen Meistererzählung

Am zweiten Tag der Veranstaltung skizzierte THOMAS HERTFELDER (Stuttgart) in seinem Vortrag „70 Jahre Bunderepublik. Aufstieg und Krise einer historischen Meistererzählung“ den neuen populären Gründungsmythos Deutschlands.

Bis in die 1980er-Jahre beruhte er auf ökonomischen Grundlagen. Historiker betrachteten die Bundesrepublik bis zu diesem Zeitpunkt als eine Demokratie auf Bewährung. Seiner These nach hat sich seit der Wiedervereinigung Deutschlands allmählich eine neue „Meistererzählung“ der Demokratie entwickelt. Unter einer „Meistererzählung“ versteht er die Geschichte eines Kollektivs, in der Regel einer Nation, die über einen längeren Zeitraum hinweg erzählt wird und die diese Erzählung auf eine bestimmte, identitätsrelevante Perspektive fokussiert.

Am Beispiel der Dauerausstellung des Bonner Hauses der Geschichte der Bundesrepublik ging er auf die verschiedenen Elemente der Erzählung ein. Das Haus der Geschichte erzählte von Anfang an eine demokratische Erfolgsgeschichte in identitätsstiftender Absicht. Als Elemente dieser „Meisterzählung“ fungieren der nachgereichte Gründungsmythos, die demokratische Institutionenordnung, das Narrativ der erfolgreichen Wirtschaftsnation, die Protestbewegungen und das zivilgesellschaftliche Engagement sowie die Liberalisierung der deutschen Gesellschaft.

Dem alten Mythos des deutschen „Wirtschaftswunders“ wird in der neuen Meisterzählung das „Demokratiewunder“ nachgereicht. Die deutsche Wiedervereinigung und die Diktaturbewältigung dienen seiner Meinung nach als die zwei „Plots“ in der neuen Erzählweise. In der neuen „Meistererzählung“ gehört die erfolgreiche Bewältigung gleich zweier Diktaturen zu den zentralen Errungenschaften der deutschen Demokratie und – mehr noch – als eigentlicher Ausweis ihrer Reife. Jedoch stößt diese Meistererzählung an ihre Grenzen, da sie Randgruppen, Modernisierungsverlierer sowie die ostdeutsche Perspektive fast komplett ausblendet. Die Erzählung ist ein genuines Produkt westdeutscher Historiker. Ebenso bezieht sie keine gesamteuropäischen Prozesse mit ein.

Die größten Herausforderungen für die „Meistererzählung“ bleiben die neue Kapitalismuskritik und der aufkommende Rechtspopulismus. Da die Randgruppen nicht Teil der Erzählung sind, versuchen sie eine Gegenerzählung aufzubauen, deren Perspektivpunkt nicht mehr die Demokratie, sondern die ethnische und kulturelle Identität der Deutschen bildet.

Der Referent sieht keine Gefahr, dass dieser Ansatz die neue „Meistererzählung“ ablösen wird, trotzdem muss sie seiner Meinung nach eine kritische Wendung erfahren – oder sie wird sich, ähnlich wie in den USA, im Zeichen eines neuen „Kulturkampfs“ ganz auflösen.

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Vortrag mit Diskussion: Das Grundgesetz der Bundesrepublik

Horst Haller, Pulse of Europe, Stuttgart

Vortrag mit Diskussion: Das Grundgesetz der Bundesrepublik – Baustein oder Stolperstein für die weitere Integration Europas

Zum Abschluss der Tagung ging HORST HALLER (Stuttgart) der Frage nach, ob das Grundgesetz der Bunderepublik ein Baustein oder Stolperstein für die weitere Integration Europas darstellt.

Nicht nur die unverhandelbaren Grundrechte, die alle Staatsgewalt als unmittelbar geltendes Recht binden, sondern auch die in der Präambel als Auftrag formulierte Bedingung, als gleichberechtigtes Mitglied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, haben nach Meinung des Referenten mindestens den Rang eines Staatsziels.

Mit der Wiedervereinigung Deutschland kam es zu drei bedeutenden Änderungen im Grundgesetz, die eine weitere Integration Deutschlands in Europa ermöglichten.

  • Das Subsidiaritätsprinzip (Art. 23),
  • die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen (Art. 24) und
  • die Übertragung der Befugnisse der Bundesbank auf die Europäische Zentralbank (Art. 88)

lieferten die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen, um die Verträge von Maastricht und Lissabon zu ermöglichen. Die drei Artikel sind gleichermaßen Bau- und Stolperstein. Sie ermöglichen einerseits die Öffnung in Richtung einer europäischen Gemeinschaft. Gleichzeitig stellen sie die Öffnung unter den nationalstaatlichen Vorbehalt. Bei einer gemeinsamen europäischen Sozial- und Fiskalpolitik würden in noch deutlich größerem Umfang Eingriffe in die nationalstaatliche Souveränität erforderlich werden.

Haller kam zu dem Ergebnis, dass es letztlich eine politische Entscheidung ist, ob gesetzliche Regelungen mit ordnungspolitischem Charakter zum Bau- oder Stolperstein werden. Als Ausblick lieferte er den Art. 146 des Grundgesetzes, der theoretisch eine neue, vom deutschen Volk in freier Entscheidung getroffene Verfassung ermöglichen würde – auch eine europäische Verfassung. Nichtsdestotrotz müsste die Konkurrenz zur Ewigkeitsklausel (Art. 79 Abs. 3 GG) intensiv diskutiert werden.

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