Rückblick auf die Fachtagung

Rechtsextremismus in Baden-Württemberg

Weltbilder und Lebenswelten

11. November im Literaturhaus Stuttgart

„Rechtsextremismus in Baden-Württemberg – unter diesem Titel fand am 11. November 2013 im Literaturhaus Stuttgart eine Fachtagung statt, zu der das Ministerium für Integration Baden-Württemberg, die Landeszentrale für politische Bildung (LpB) und die Robert Bosch Stiftung geladen hatten. Mehr als 100 Multiplikatorinnen und Multiplikatoren aus dem Bildungsbereich und der Zivilgesellschaft, aus Politik und Medien diskutierten, inwieweit fremdenfeindliches Gedankengut im Südwesten Fuß fassen konnte – und was Staat und Zivilgesellschaft dagegen tun können.

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Im abschließenden Podiumsgespräch tauschten sich Praktiker aus Städten und Landkreisen über Alltagserfahrungen im Kampf gegen Rechtsextremismus in Baden-Württemberg aus.

Das Ländle: Eine Insel der Seligen? Mit diesem Vorurteil wurde gleich zu Beginn der Tagung aufgeräumt. „Es ist ein Defizit, dass man Rechtsextremismus nur in den neuen Bundesländern verortet“, sagte Prof. Dr. Joachim Rogall, Geschäftsführer der Robert Bosch Stiftung, in seinem Eingangsstatement. „Wir werden heute wohl einige unangenehme Wahrheiten zu hören bekommen.“

Auch LpB-Vizedirektor Karl-Ulrich Templ warnte davor, beim Thema Fremdenfeindlichkeit mit dem Finger auf Ostdeutschland zu zeigen: „Baden-Württemberg ist nicht ohne.“ Der Brandanschlag in Winterbach oder die Neonazi-Aufmärsche in Göppingen seien dafür nur die augenscheinlichsten Symptome. Es gebe eine entwickelte rechtsextreme Szene, in der auch entsprechende Musikgruppen und Verlage gedeihen.

Diskriminierung kann jeden treffen

„Man muss nicht NPD wählen, um rassistische Einstellungen an den Tag zu legen“, so die Initiatorin der Tagung Bilkay Öney, Landesministerin für Integration. Wer genau hinsehe, könne in seinem Umfeld einen subtilen Alltagsrassismus bemerken. Auch ihr ergehe das bisweilen so. Die Ministerin warnte davor, Integration als ein Randgruppenthema misszuverstehen. Es gehe dabei um Menschenfeindlichkeit an sich, die jeden betreffe: „Jeder kann aufgrund willkürlicher Attribute zum Opfer von Diskriminierung und Gewalt werden.“


Zum Auftakt der Fachtagung forderte Integrationsministerin Bilkay Öney (zweite von rechts) ein breites Bündnis gegen Menschenfeindlichkeit. Das Fotos zeigt die Ministerin, flankiert von der Tagungsmoderatorin Shelly Kupferberg auf der einen Seite und von Prof. Dr. Joachim Rogall, Geschäftsführer der Robert Bosch Stiftung, Karl-Ulrich Templ, stv. Direktor der Landeszentrale sowie Fabian Weißbarth vom American Jewish Committee auf der anderen Seite.

 

Ein Weg, Abneigung gegen „das Fremde“ gar nicht erst aufkommen zu lassen, ist, das vermeintlich Andere als das Eigene sehen zu lernen. In diesem Sinn rief Fabian Weißbarth vom American Jewish Committee dazu auf, das jüdische Leben selbstverständlicher als Teil der deutschen Wirklichkeit wahrzunehmen, gerade auch im Schulunterricht: „Zu diesem Leben gehört weit mehr als die Zeit von 1933 bis 1945, in der versucht wurde, es zu zerstören.“

Eine Auswahl der von Rogall angekündigten „unangenehmen Wahrheiten“ präsentierte anschließend Prof. Dr. Kurt Möller von der Hochschule Esslingen in seinem einführenden Vortrag. Zwar schätzt der Verfassungsschutz, dass das sogenannte rechtsextremistische Personenpotential in Deutschland im Vergleich zu den 1990er Jahren, als Anschläge in Hoyerswerda und Rostock, Mölln und Solingen traurige Schlagzeilen machten, merklich zurückgegangen ist: auf etwa 22.000 Personen. Auch liege Baden-Württemberg mit 1.900 Personen zahlenmäßig leicht unter dem Bundesschnitt. Aber, so Möller: „Das ist ein quantitativer Niedergang bei einer gleichzeitigen qualitativen Zuspitzung der Problematik.“ Wurden 1988 bundesweit noch etwa 2.000 rechtsextreme Straftaten verzeichnet, wuchs der Wert bis 1993 rasant auf rund 10.000. Nur ein scheinbarer Ausreißer nach oben: Im vergangenen Jahr wurden weit mehr als 15.000 Fälle gezählt.


In seinem einführenden Vortrag „Das Ländle – (k)eine Insel der Seligen?“ gab der Esslinger Hochschulprofessor Dr. Kurt Möller einen Überblick über die Situation in Baden-Württemberg: „Rechtsextremismus ist keine vorübergehende Angelegenheit, sondern ein strukturell verankertes und daher sehr hartnäckiges Problem.“

Eisberg von rechts

Unterhalb der Schwelle zum Straftatbestand falle Baden-Württemberg im Ländervergleich in zweifacher Hinsicht negativ auf, so Möller. Zum einen hat eine Studie im Jahr 2003 ergeben, dass nirgendwo sonst in Deutschland die Wahlbereitschaft für rechtsextremistische Parteien höher ist (16 Prozent der Befragten). Zum anderen ist es eines von nur drei Bundesländern (neben Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern), in denen eine rechtsextreme Partei sich zwei Wahlperioden in Folge im Landtag halten konnte.

Möller gab zu bedenken, dass die derzeit niedrigen Wahlresultate einschlägiger Parteien in Baden-Württemberg nicht per se Anlass zur Beruhigung geben: „Diejenigen, die rechtsextreme Einstellungen haben, wählen nicht notwendigerweise rechtsextreme Parteien.“ Mehrere Studien kamen zu dem Ergebnis, dass die große Mehrheit dieser Menschen bei Wahlen für die Volksparteien stimmt, für CDU/CSU und SPD. „Wir haben ein Eisbergproblem“, folgerte Möller aus diesen Zahlen: „Der Großteil des Problems Rechtsextremismus ist unsichtbar. Er liegt unterhalb der Wasseroberfläche.“

4 Diskussionsrunden: Gute Argumente brauchen manchmal Zeit

In vier vertiefenden Diskussionsrunden tauschten sich Experten und Tagungsteilnehmer darüber aus, wie stark rechtsextremistische Lebenswelten in Baden-Württemberg verankert sind, welche Rolle die rechtsextremistische Musikszene spielt, wie Rechtsextremisten die Neuen Medien nutzen und auf welche Weise rechtspopulistische Weltbilder in der Mitte der Gesellschaft wirken. Wie man Jugendliche davor bewahrt, in den rechten Sumpf abzudriften und wie man ihnen Brücken baut, damit sie wieder herausfinden – auch darum ging es in einer dieser vier vertiefenden Diskussionsrunden.

„Demokratie ist kein Naturzustand, sondern muss als ständige, gemeinsame Aufgabe verstanden werden“, so Carmen Karr, die als Projektkoordinatorin des Netzwerks für Demokratie und Courage e.V. Präventionskurse an Schulen durchführt. Zu dieser Aufgabe gehöre, klar gegen menschenverachtende Äußerungen Position zu beziehen und ebenso, Mitmenschen zu Solidarität mit Diskriminierten zu ermutigen. Allerdings dürfe ein solches Engagement nicht dazu führen, dass man gegenüber Jugendlichen belehrend auftrete und gar bestimmte Realitäten beschönige: „Wenn Schüler von Problemen mit einer gewalttätigen Clique türkischer Jugendlicher berichten, sollte man diese Erfahrung nicht kleinreden, sondern ernstnehmen. Und dann darlegen, warum eine solche Erfahrung keine Rückschlüsse auf ‚die Türken‘ zulässt.“


Arbeitsgruppe 1 verhandelte rechtsextremistische Lebenswelten in Baden-Württemberg. Es referierten Carmen Karr, LAGO, Koordinatorin „Netzwerk für Demokratie und Courage“ und Frank Buchheit, Landeskriminalamt Baden-Württemberg.

Vor übermäßigem Sendungsbewusstsein warnte auch Frank Buchheit von der Zentralstelle Prävention des Landeskriminalamtes: „Politische Bildung funktioniert nicht mit ausgestrecktem Zeigefinger.“ Es gehe darum, zu überzeugen, nicht zu überreden. Dass dazu manchmal viel Geduld gehört, verdeutlichte Buchheit mit einem Beispiel aus seinem Arbeitsalltag. Ein Jugendlicher, den er betreute, erzählte ihm, er habe der rechten Szene hauptsächlich wegen der intensiven Diskussionen mit seinem Gemeinschaftskundelehrer den Rücken gekehrt – fünf Jahre nach diesen Diskussionen. Und obwohl er dem Lehrer immer heftig widersprochen habe. „Eine Verunsicherung durch gute, sachlich hervorgebrachte Argumente“, so Buchheit, „kann manchmal langfristig ihre Wirkung entfalten.“


Arbeitsgruppe 2 befasste sich mit der rechtsextremistischen Musikszene in Baden-Württemberg. Impulse kamen von Stephan Braun, Journalist und MdL a.D., sowie von Alexander Schell vom Projekt „Team meX“.

Gesellschaftliche Entsolidarisierung

Buchheit plädierte zudem für eine Politisierung des pädagogischen Raums: „In der Bildung geht es nicht nur um Marktanpassung, sondern auch um das Darüberhinausdenken.“ Es sei wichtig, gesellschaftlichen Phänomenen wie Entsolidarisierung und Desintegration entgegenzuwirken, da durch diese extremistische Strömungen verstärkt würden.


Arbeitsgruppe 3 stellte den Rechtsextremismus in den Neuen Medien dar. Expertise brachten Christiane Schneider von jugendschutz.net und Johannes Baldauf von „no-nazi.net“ – für Soziale Netzwerke ohne Nazis ein.

Entsolidarisierung, Prekarisierung, Zukunftsangst – dass man diese sozialen Randbedingungen bei der Betrachtung von Rechtsextremismus nicht außer Acht lassen sollte, kam auch in der anschließenden großen Podiumsdiskussion noch einmal zur Sprache, als Praktiker aus Pforzheim und Göppingen, aus dem Rems-Murr-Kreis und von der Schwäbischen Alb über ihre persönlichen Erfahrungen im Kampf gegen den Rechtsextremismus berichteten.


Arbeitsgruppe 4 lotete rechtspopulistische Weltbilder in der Mitte der Gesellschaft aus. Referenten waren Friederike Hartl von der LpB und Robin Brodt, Projekt „Team meX“ und „Netzwerk für Demokratie und Courage“.

Martin Bachhofer vom Landesnetzwerk gegen Rechtsextremismus griff diesen Punkt in seiner Schlussbemerkung zu der Fachtagung ebenfalls auf. Er rief das „Eisbergproblem“ in Erinnerung: „Ich glaube, dass sich die Landespolitik bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus zu sehr auf das eine Siebtel des Eisbergs konzentriert, das für alle sichtbar aus dem Wasser ragt.“ Dieser augenscheinlichste Teil des Problems sei zwar auch der unmittelbar gefährlichste. Dennoch: „Mit dem Eispickel allein das obere Siebtel zu bearbeiten, hilft nicht weiter“, so Bachhofer. „Man muss auch ein bisschen für warmes Wasser sorgen.“

(November 2013, Markus Wanzeck)


 

Informationen zur Fachtagung:

Literaturhinweise

Referentinnen und Referenen der Fachtagung

 

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