Die Deportation der Jüdinnen und Juden nach Riga am 1. Dezember 1941

Nach oben

Jüdisches Leben vor 1933 und Ausgrenzung im NS-Regime

Jüdinnen und Juden machten im Land Württemberg und im benachbarten preußischen Regierungsbezirk Hohenzollern nur rund 0,4 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Die meisten hatten sich nach der Gewährung der Freizügigkeit Mitte des 19. Jahrhunderts in Städten wie Stuttgart, Heilbronn oder Ulm angesiedelt. Doch in einigen württembergischen und hohenzollerischen Kleinstädten und Dörfern wie beispielsweise im oberschwäbischen Laupheim lebten beinahe so viele Jüdinnen und Juden wie Christen. Trotz ihrer verhältnismäßig geringen Anzahl prägten sie das gesellschaftliche Leben in den Kommunen im frühen 20. Jahrhundert entscheidend mit. Nicht selten waren sie Treiber der Modernisierung und Garanten der Prosperität gewesen. Sie hatten erfolgreich Firmen aufgebaut, Geschäfte eröffnet und engagierten sich in Vereinen und in der Kommunalpolitik. Mit den von ihnen errichteten Synagogen, Konfessionsschulen und Friedhöfen waren sie im Stadt- und Ortsbild auch architektonisch präsent.

Bereits vor 1933 waren Jüdinnen und Juden allerdings mit antijüdischen Ressentiments konfrontiert. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten begann ihre systematische Ausgrenzung und Entrechtung. Die antisemitische Propaganda stigmatisierte sie, zunehmend schlug ihnen Misstrauen, Hass und Hetze der nichtjüdischen Bevölkerung entgegen. Scheinlegale Gesetze und Erlasse forcierten ihre ökonomische, politische und soziale Ausgrenzung. Berufsverbote, Boykotte und Zwangsverkäufe jüdischer Betriebe und Geschäfte, Zwangsumsiedelungen innerhalb Württembergs und Hohenzollerns und zahlreiche weitere diskriminierende Verordnungen hatten eine weitgreifende gesellschaftliche Isolation zur Folge. So trat kaum jemand für sie ein, als die Jüdinnen und Juden am 9. November 1938 Opfer der Gewaltexzesse der reichsweiten Pogromnacht wurden. Auch in Württemberg und Hohenzollern zerstörten die Nationalsozialisten Synagogen und jüdische Geschäfte. Viele Juden wurden verhaftet, auf offener Straße misshandelt und ins Konzentrationslager Dachau verschleppt, von wo sie traumatisiert zurückkehrten.

Zehntausende versuchten wegen der zunehmenden Repressionen und Entrechtung, ihre Heimat zu verlassen und einen Neuanfang außerhalb Deutschlands zu wagen. Wem die Emigration nicht bis Kriegsbeginn gelungen war, der saß geradezu in der Falle. Mit dem Auswanderungsverbot, das das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) in Berlin am 23. Oktober 1941 erließ, wurde eine Flucht schier unmöglich.

Nach oben

Der Beginn der Vernichtung: Die Vorbereitung der Deportation

Spätestens ab Sommer 1941 konkretisierte die NS-Führung ihre Pläne zur Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden. Nach dem deutschen Einmarsch in die Sowjetunion töteten SS-Einsatzkommandos durch Massenerschießungen jüdische Männer, Frauen und Kinder.

Als man im Spätherbst im „Judenreferat“ in der Gestapo-Zentrale für Württemberg und Hohenzollern mit der Organisation der Deportation der Jüdinnen und Juden begann, war der Holocaust im besetzten Osten Europas bereits im Gange. Am 18. November wurden die Polizeidirektionen und Landräte in einem Erlass der Gestapo aus Stuttgart darüber informiert, dass „im Rahmen der gesamteuropäischen Entjudung“ die Deportation von 1.000 württembergischen und hohenzollerischen Jüdinnen und Juden geplant sei.

Die Jüdische Mittelstelle für Auswanderung wurde gezwungen, die in Frage kommenden Personen für die Deportation auszuwählen und die organisatorischen Vorbereitungen zu treffen. In nur einer Nacht mussten die Listen mit als arbeitsfähig eingeschätzten Jüdinnen und Juden unter 65 Jahren zusammengestellt und die Betroffenen informiert werden. Mit der Aufforderung, Werkzeuge, Geschirr und Saatgut mitzunehmen, wurde die Verschleppung als Umsiedlungsaktion getarnt. Die Kosten für die Deportation mussten die Jüdinnen und Juden selbst bezahlen. Hannelore Marx, die 1922 als Hannelore Kahn in Stuttgart geboren wurde, erinnert sich an den herzzerreißenden Abschied vom Großvater, der als einziges Familienmitglied nicht am 1. Dezember 1941 deportiert wurde: „Er klammerte sich an Papa und Mama und wir weinten uns die Augen aus, weil wir wussten, dass wir uns in diesem Leben nie wieder sehen würden.“

Nach oben

Das Sammellager Killesberg

Ab dem 27. November wurden die Jüdinnen und Juden auf dem Reichsgartenschaugelände auf dem Killesberg in Stuttgart interniert. 1939 war der ehemalige Steinbruch im Rahmen der Reichsgartenschau zu einem Naherholungsgebiet ausgebaut worden. Nun diente die repräsentative „Ehrenhalle für den Reichnährstand“ als Unterbringungen für Jüdinnen und Juden aus 30 Orten in Württemberg und Hohenzollern.

Ein Propagandafilm der Stadtverwaltung Stuttgart zeigt, wie Formulare und Papiere der Jüdinnen und Juden geprüft werden und wie Personen zwischen ihrem auf Stühlen gestapelten Gepäck scheinbar gelöst miteinander plaudern. Menschen warten geduldig an der Essensausgabe, beschriftete Koffer werden in Lastwagen verladen. Dass die Jüdinnen und Juden auf dem Killesberg der wenigen, am Körper getragenen persönlichen Wertgegenstände beraubt wurden, zeigt der Film dagegen genauso wenig wie die Beleidigungen und Schikanen durch ihre Bewacher. Die Zustände im Sammellager waren schrecklich. „An Schlafen war nicht zu denken“, erinnerte sich Victor Marx in einem Brief vom 7. Dezember 1964. Zusammen mit seiner Ehefrau und der gemeinsamen Tochter war er aus Haigerloch nach Stuttgart gebracht worden. Die geplante Auswanderung war vor Kriegsbeginn gescheitert. Statt einer hoffnungsvollen Zukunftsperspektive im sicheren Ausland sahen sie sich nun der von Angst und Leid geprägten Atmosphäre im Sammellager ausgesetzt. „Von überall her kamen württembergische Juden in dieses Sammellager und es herrschte ein unbeschreibliches Elend“,  schrieb Marx rückblickend. Als die Familie gemeinsam mit beinahe 1.000 anderen Menschen in der Nacht zum 1. Dezember 1941 einen der zwanzig unbeheizten Waggons eines Sonderzuges bestieg, wusste niemand von ihnen, dass die Fahrt erst drei Tage später im lettischen Riga enden würde.

Nach oben

Das Lager Jungfernhof

Am 4. Dezember 1941 fuhr der Deportationszug am Bahnhof Skirotawa bei Riga ein. Es war, abgesehen von kurzen Stopps, bei denen wenige Männer den Waggon verlassen durften, um frisches Wasser zu holen, der erste Halt seit der Abfahrt am Stuttgarter Nordbahnhof. Bei der Ankunft erwarteten die Jüdinnen und Juden bereits SS-Angehörige, die ihnen ihr restliches Gepäck wegnahmen und sie unter Gewaltanwendung weitertrieben. „Sie schlugen mit langen Holzstöcken auf die Leute ein, die heraus kamen und nur mit Mühe gehen konnten, nachdem sie drei Tage und Nächte lang zum Sitzen gezwungen gewesen waren“, erinnerte sich Hannelore Marx später. „Der Boden war schneebedeckt, und es war sehr, sehr kalt und rutschig. Einige der älteren Leute fielen, aber niemand durfte ihnen aufhelfen.“ Das Entsetzen vergrößerte sich bei der Ankunft im Lager Jungfernhof. Der ehemalige Gutshof war kurzfristig als Zielort der Deportationen ausgewählt worden, nachdem sich das Ghetto Riga als zu klein für die neu ankommenden Menschen erwiesen hatte. Doch auch der Jungfernhof befand sich in einem desolaten Zustand und war keinesfalls darauf ausgerichtet, derartig viele Menschen unterzubringen.

Männer und Frauen waren getrennt untergebracht: die Männer dicht aneinandergedrängt in einer großen Wellblechhalle, durch deren offene Tore die beißende Kälte eindrang, die weiblichen Deportierten in baufälligen Scheunen und Viehställen. Bei bis zu minus 40 Grad waren sie Schnee, Wind und Regen ausgesetzt. Von Unterernährung und den Misshandlungen des Wachpersonals gezeichnet, waren die meisten Gefangenen anfällig für Krankheiten. Wer zu kraftlos war, um von SS-Lagerkommandant Rudolf Seck als arbeitsfähig eingestuft zu werden, musste fürchten, selektiert und erschossen zu werden. Nur wenige überstanden den Winter in der eisigen Kälte Lettlands. „Täglich erfror eine größere Anzahl. Ein besonderes Arbeitskommando war dazu da, um täglich die Toten aus den Regalen zu ziehen. Die Leichen wurden abseits der Scheune auf dem Hof gestapelt“, beschrieb die 1902 in Baden-Baden geborene Jüdin Sofi Billig später. Härteste Zwangsarbeit, Seuchen und Schikanen der Bewacher stellten eine unfassbare psychische und physische Belastung für die Betroffenen dar. Auch öffentliche Hinrichtungen aufgrund kleinster Vergehen waren keine Seltenheit.  

Unter dem falschen Versprechen einer geeigneteren Unterbringung, medizinischer Versorgung und der Möglichkeit für die Kinder, eine Schule zu besuchen, wurden mehr als 1.000 Personen im März 1942 aus dem Lager weggebracht. Erst später erfuhren ihre Angehörigen, dass ihre Liebsten, darunter die meisten Frauen und Kinder, Kranke und Personen über 50 Jahre aus Württemberg und Hohenzollern, im Wald von Bikernieki erschossen worden waren. Nur 43 Personen aus dem Deportationszug, der am 1. Dezember 1941 Stuttgart verlassen hatte, überlebten den Holocaust.

Nach oben

„Verwertung jüdischen Vermögens“ nach der Deportation

Nur 50 Kilogramm Gepäck durften die Jüdinnen und Juden mitnehmen, als sie im November 1941 nach Stuttgart und anschließend nach Riga deportiert wurden. Sie hatten nur Kleidung, Geschirr und wenige Habseligkeiten mitnehmen dürfen. Daran, was die Deportierten in ihren Häusern und Wohnungen zurückließen, bereicherten sich frühere Nachbar:innen schamlos.
An der Organisation und Durchführung der Deportation waren Mitarbeiter:innen lokaler Polizeiämter, kommunaler Verwaltungsbehörden oder Speditionen aktiv beteiligt gewesen. In Zusammenarbeit mit den zuständigen Finanzämtern plünderten sie die Opfer nun vollständig aus. Im Rahmen der „Aktion T3“ verleibte sich der Staat das Vermögen der Verschleppten ein. Bereits vor ihrer Deportation hatten die betroffenen Jüdinnen und Juden eine Vermögenserklärung zu unterzeichnen, die sie auf dem jeweiligen Bürgermeisteramt vorlegen mussten. „Das gesamte Vermögen dieser Juden wird generell eingezogen“, informierte die Gestapo die Landräte und Polizeidirektoren bereits in dem Erlass vom 18. November 1941. Noch im Sammelllager auf dem Killesberg in Stuttgart wurden den Deportierten die entsprechenden Verfügungen zugestellt. Das Oberfinanzpräsidium koordinierte den Einzug und die „Verwertung des jüdischen Vermögens“ in Zusammenarbeit mit den lokalen Finanzbehörden und anderen Ämtern.

Unmittelbar nach der Verschleppung der Jüdinnen und Juden versiegelten die örtlichen Behörden ihre Wohnungen. Das, was sich noch darin befunden hatte, wurde beschlagnahmt. Wertvolles und Nützliches behielten die NS-Behörden für sich selbst oder überließen es Parteigängern und Sympathisanten. Das, wofür sie keine Verwendung fanden, verscherbelten sie bei Auktionen an die Bevölkerung. Mit regem Interesse beteiligte sich diese an der Versteigerung des Hausrats, den die Deportierten hatten zurücklassen müssen. Mit einer Rückkehr der Verschleppten rechnete kaum einer mehr.


Zitate aus:

Cornelia Hecht/Antje Köhlerschmidt: Die Deportation der Juden aus Laupheim. Eine kommentierte Dokumentensammlung, Laupheim 2004.

Hannelore Marx: Stuttgart – Riga – New York.  Mein jüdischer Lebensweg. Erinnerungen, Horb 2005.

Lilli Zapf: Die Tübinger Juden. Eine Dokumentation, Tübingen 31981.


Text: Linda Huber nach LpB Baden-Württemberg (Hrsg.): „Wir fragten uns, ob wir unser Zuhause je wiedersehen würden.“ Die Deportationen der Jüdinnen und Juden aus Württemberg und Hohenzollern 1941 bis 1945, MATERIALIEN, Stuttgart 2021.

Cookieeinstellungen
X

Wir verwenden Cookies

Wir nutzen auf unseren Websites Cookies. Einige sind notwendig, während andere uns helfen, eine komfortable Nutzung diese Website zu ermöglichen. Einige Cookies werden ggf. für den Abruf eingebetteter Dienste und Inhalte Dritter (z.B. YouTube) von den jeweiligen Anbietern vorausgesetzt und von diesen gesetzt. Gegebenenfalls werden in diesen Fällen auch personenbezogene Informationen an Dritte übertragen. Bitte entscheiden Sie, welche Kategorien Sie zulassen möchten.