„Wandelnder Wächter der Erinnerung“ begleitet zukünftig Schulklassen in Leutkirch

Der Initiativkreis „Orte des Erinnerns“, Sektion Allgäu-Oberschwaben des Vereins „Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V“ hat mit Unterstützung der Landeszentrale Baden-Württemberg die internationale Wanderausstellung „Odyssey“ des britischen Bildhauers Robert König erstmals nach Deutschland geholt. Die Holzfiguren konnten vom 25. August bis zum 13. Oktober 2013 auf dem Gänsbühl neben dem historischen Rathaus in Leutkirch im Allgäu besichtigt werden.

Nach dem Weiterzug der Installation hat eine Figur des Künstlers in Leutkirch eine Heimat gefunden. Sie wird als „Wandelnder Wächter der Erinnerung“ jedes Jahr am Volkstrauertag an eine andere Schule in Leutkirch weitergereicht. Die Schule wird dann für ein Jahr die Patenschaft für die Figur übernehmen.

Die „Odyssey“- Ausstellung und der „Wandelnder Wächter der Erinnerung“ in Leutkirch im Allgäu

Was für eine Erinnerungskultur wollen wir? Diese Frage stellte sich die Sektion Allgäu-Oberschwaben des Vereins „Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V.“ in Leutkirch im Allgäu.

Der Nationalsozialismus war eine alle Institutionen durchdringende, umfassende Ideologie, die auch in ländlichen Regionen wie Leutkirch fest verankert war. Es soll ins Bewusstsein gerufen werden, dass die Opfer des NS-Regimes aus der Gemeinde kamen und auch dort zur Schule gingen. Sie wurden von den Nationalsozialisten aus der Mitte der Gesellschaft gerissen und ermordet.  Ist es daher ausreichend, einen Gedenkstein anzubringen, der nach einiger Zeit kaum noch Beachtung findet?

Der „Wandelnde Wächter der Erinnerung“ steht für eine dynamische Erinnerungskultur. Er begleitet die Schüler und bietet Anlass zur Auseinandersetzung. Die Figur wird jeweils am Volkstrauertag an eine andere Schule weitergereicht, an dem Tag, an dem an die Kriegstoten und Opfer der Gewaltherrschaft aller Nationen erinnert wird.  In der Gestaltung ihrer Patenschaft hat die jeweilige Schule viel Spielraum. Die Geschichtsvermittlung kann ganz klassisch im Geschichts- und Deutschunterricht stattfinden oder etwa im Kunstunterricht, dessen Herangehensweise an die Aufarbeitung des Themas sich vielleicht gerade für Grundschulen eignet.

Wanderausstellung „Odyssey“ in Leutkirch im Allgäu

Die „Odyssey“ unternimmt eine Reise entlang des Wegs, den die Mutter des Künstlers 1942 von ihrem Heimatort in Polen über nationalsozialistische Arbeitslager in Deutschland bis nach England gehen musste. Dort ließ sie sich schließlich nach dem Zweiten Weltkrieg nieder. Seinen Anfang nahm das Projekt in Polen in Dominikowice, dem Geburtsort von Robert Königs Mutter.

Zwischen 1996 und 2001 entstanden dort bei längeren Aufenthalten 23 Holzfiguren. Seitdem wurde die „Odyssey“ schon an 19 Orten in ganz Europa ausgestellt. Zuletzt 2012 vor der Kirche St. Martin-in-the-Fields beim Trafalgar Square in London. Die Installation wurde auf ihrer Reise um weitere Skulpturen erweitert und bestand bei der Ankunft in Leutkirch bereits aus 41 männlichen und weiblichen Holzfiguren.

In Leutkirch wurden von Robert König zwei neue Figuren gefertigt. Dabei ließ er sich von dem Schicksal der Lilo Gollowitsch inspirieren, die am 10. Juli 1942 mit ihrer Mutter Alice nach Auschwitz deportiert wurde. Eine dieser beiden Figuren wird als „Wandelnder Wächter der Erinnerung“ in den Schulen von Leutkirch eine Heimat finden.


Die neue Figur

Die Holzfiguren des Künstlers Robert König stellen Erniedrigte dar, deren Würde durch die Streckung ihrer Proportionen symbolisch erhöht wird. Ihre Arme sind an den Seiten heruntergestreckt, als ob sie aus dem Boden herausgezogen worden seien. Sie stehen für Migration, Entwurzelung, Heimatlosigkeit und Vertreibung. Ihre Gesichtsausdrücke sind verschieden, aber jeder für sich deutet auf einen starken Charakter hin. Ihre festen Blicke wirken nicht anklagend, sondern fragend und neutral.

Ein Großteil der Skulpturen blickt auf das Gebäude und den Kornhausplatz gegenüber vom Gänsbühl. 1905 erwarb der Kaufmann Lippmann Gollowitsch das im Zentrum der Leutkircher Altstadt gelegene Gasthaus „Anker“ und ersetzte es durch einen Neubau.  Heute befindet sich in dem neu sanierten Geschäftshaus die Lokalredaktion der Schwäbischen Zeitung. Aufgrund der guten Geschäfte und der Mitarbeit der Söhne Fritz und Heiner Gollowitsch wurde das Kaufhaus bald um das angrenzende Gebäude „Schatten“ erweitert. Dieser Teil des Kaufhauses Gollowitsch wurde jedoch 1938 zwangsenteignet und abgerissen. Heute befindet sich dort der Kornhausplatz. Das übrige Geschäft kam Anfang 1939 durch Zwangsverkauf in „arische“ Hände.

Am 28. November 1941 wurde die Kaufmannsfamilie Fritz Gollowitsch deportiert und über das Durchgangslager auf dem Stuttgarter Killesberg in die Vernichtungslager der Nationalsozialisten geschickt. Am 10. Juli 1942 sollte Heiner Gollowitsch mit Frau Alice und Tochter Lilo folgen. Heiner Gollowitsch wurde nach einem Selbstmordversuch in Leutkirch in das Polizeigefängnis II nach Stuttgart gebracht und dort vermutlich getötet. Seine Frau Alice und Tochter Lilo kamen nach Auschwitz. Von den aus Leutkirch Deportierten hat niemand überlebt. Drei Figuren vor dem Haus, die ihre Körper dem größeren Teil der Gruppe zuwenden, erinnern an sie.


Drei Figuren vor dem Haus Gollowitsch

Weiter oben, vor dem ehemaligen kleinen Häuschen der Familie Haßler, stehen zwei weitere Figuren etwas abseits von der Gruppe. Sie stehen stellvertretend für die Geschwister Emilie und Johanna Haßler, die im Rahmen der „Aktion T4“, wie die systematische Ermordung von Psychiatriepatienten und behinderten Menschen bezeichnet wurde, 1940 in Grafeneck durch Giftgas ermordet wurden.

Begleitend zu der „Odyssey“-Ausstellung des britischen Bildhauers Robert König wurde ein Rahmenprogramm gestaltet, welches Gottesdienste, Begegnungen mit dem Künstler, von ihm durchgeführte Workshops an Schulen und die Vorstellung des halbdokumentarischen Films „No Place On Earth – Kein Platz zum Leben“ umfasste. Den Abschluss bildeten ein „Abend der Stille“ und ein Konzert mit dem Bläser-Ensemble EnCASA. Zudem konnte die Begleitausstellung „Das Schicksal der Familie Gollowitsch in Leutkirch“ im historischen Rathaus besichtigt werden.

Cookieeinstellungen
X

Wir verwenden Cookies

Wir nutzen auf unseren Websites Cookies. Einige sind notwendig, während andere uns helfen, eine komfortable Nutzung diese Website zu ermöglichen. Einige Cookies werden ggf. für den Abruf eingebetteter Dienste und Inhalte Dritter (z.B. YouTube) von den jeweiligen Anbietern vorausgesetzt und von diesen gesetzt. Gegebenenfalls werden in diesen Fällen auch personenbezogene Informationen an Dritte übertragen. Bitte entscheiden Sie, welche Kategorien Sie zulassen möchten.