Erinnerungskultur in Baden-Württemberg

Rückblick auf die Gedenkstättenreise der Landtagspräsidentin Muhterem Aras an 5 historische Orte beiderseits des Rheins (23. bis 24.7.2018)

Die NS-Diktatur war allgegenwärtig. Sie durchdrang Stadt und Land, auch in Baden, Württemberg und Hohenzollern. Heute erinnern im deutschen Südwesten mehr als siebzig weithin zivilgesellschaftlich getragene Gedenkstätten an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen.

Vom 23. bis zum 24. Juli 2019 erkundete die Präsidentin des Landtags von Baden-Württemberg Muhterem Aras MdL die Gedenkstättenarbeit am Oberrhein.

Die Reise, veranstaltet in Kooperation mit der Landeszentrale für politische Bildung, führte nach Kippenheim, Emmendingen und Breisach, an Orte aktiven jüdischen Lebens vor dem Holocaust. Sie führte zudem nach Haslach im Kinzigtal, einst Standort eines KZ-Außenlagers, und zum ehemaligen Konzentrationslager Natzweiler-Struthof im Elsass.

Deutsche und französische Gedenkstätten setzen sich heute gemeinsam für die Aufarbeitung der Geschichte des KZ-Komplexes Natzweiler ein. Das transnationale Netzwerk der Erinnerung, dem zwölf Gedenkstätten aus dem Land angehören, ist kürzlich mit dem Europäischen Kulturerbe-Siegel ausgezeichnet worden.

In einer Pressemitteilung (24. Juli 2018) fasste der Landtag von Baden-Württemberg den Besuch dieser Stationen zusammen:

Die Arbeitsreise der Landtagspräsidentin diente der Wertschätzung aller in der ehrenamtlichen Gedenkarbeit Engagierten. „Ich will raushören und mitnehmen: Wie kann ich sie unterstützen?”, so Aras zu Beginn der Reise. Die Frage stellte sie mehr als zwei Dutzend Frauen und Männern an den jeweiligen Lern- und Erinnerungsstätten.

Nach fünf Stationen zieht die Präsidentin Bilanz: „Die Einbeziehung der Schulen ist unglaublich wichtig. Es darf nicht nur von Zufällen und Einzelpersonen abhängen, ob und wie die Gegenwart vor dem Hintergrund der Geschichte reflektiert wird, wie es ein engagierter Pädagoge treffend ausdrückte.” Lehrerinnen und Lehrer seien mehr denn je aufgerufen, Geschichte ins Jetzt zu holen. Dazu bräuchten sie Schulung, Unterstützung und Haltung – nicht nur dann, wenn Geschichtsthemen im Bildungsplan stünden.

2011 beschloss der Landtag von Baden-Württemberg eine Verfünffachung der finanziellen Mittel für Gedenkstätten, jeder zweite Euro davon fließt in die pädagogische Vermittlungsarbeit. Aras zeigte sich beeindruckt vom Ideenreichtum der bürgergesellschaftlichen Lernorte als „begehbare Geschichtsorte” und versprach, sich für eine „zeitgemäße und mutige Gedenkkultur einzusetzen, die in die Klassenzimmer passt“.


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Erste Station: Kippenheim

Die 1852 im neoromanischen Stil erbaute Synagoge ist ein außergewöhnliches Zeugnis des im 19. Jahrhundert blühenden Landjudentums.

Ihre ursprüngliche Nutzung, aber auch die Schändung in der Zeit des Nationalsozialismus lassen sich bis heute an dem Gebäude ablesen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es über Jahre hinweg als Lager für landwirtschaftliche Produkte genutzt.

Träger der 2003 renovierten Begegnungsstätte ist der 1995 gegründete Förderverein Ehemalige Synagoge Kippenheim e.V., der Veranstaltungen und Führungen zu den Stätten jüdischen Lebens anbietet.

Mitglieder des Fördervereins empfingen die Landtagspräsidentin. Bei einer Führung erläuterte der Vorsitzende des Vorstands Jürgen Stude die Geschichte der Synagoge, die Entstehungsgeschichte der Gedenkstätte und die vielfältige Arbeit des Vereins heute. Robert Krais, seit vielen Jahren auch in Kippenheim ehrenamtlich engagiert, führte in die Geschichte der einstigen jüdischen Gemeinde vor Ort bis hin zur Deportation im Oktober 1940 ein. Die Lehrkräfte Florian Hellberg und Andrea Weltz stellten Bildungsprojekte ihrer Schulen in Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte vor. Zum Auftakt des Besuchs hatte der Bürgermeister von Kippenheim, Matthias Gutbrod, die Delegation aus Stuttgart begrüßt.

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Zweite Station: Haslach im Kinzigtal

Von September 1944 bis April 1945 befanden sich in Haslach drei nationalsozialistische Lager, eines davon errichtet als Außenlager des inzwischen evakuierten Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof. 1700 Männer aus 19 Ländern wurden dort unter unmenschlichen Bedingungen teilweise unter Tage zusammengepfercht und zur Zwangsarbeit genötigt.

Sie sollten in den Haslacher Bergwerksstollen Produktionsanlagen für die Rüstungsindustrie herrichten. Seit der Einweihung der Gedenkstätten in unmittelbarer Nachbarschaft des Bergwerkgeländes 1998 konnten zahlreiche Kontakte zu ehemaligen Häftlingen hergestellt werden. Viele stammten aus Frankreich.

Die Gedenkstättenreise der Landtagspräsidentin führte zunächst an den Ort der früheren Stollen, zum Mahnmal. Nach der Begrüßung durch Bürgermeister Philipp Saar erläuterte der Gedenkstättengründer Sören Fuß die Anfänge der Gedenkstättenarbeit, die ersten Versuche der Kontaktaufnahme zu Überlebenden und die Arbeit heute. Der Gymnasiallehrer Mathias Meier-Gerwig erläuterte das Schülerprojekt „Weg des Erinnerns“, eines Weg, der die Stationen der Häftlinge im Ort nachvollzieht. Susanne Meier-Gerwig, pädagogische Mitarbeiterin der Gedenkstätte, präsentierte eine didaktische Handreichung für die Bildungsarbeit an der Gedenkstätte Vulkan. 

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Dritte Station: Emmendigen

Vor 21 Jahren wurde in einem kleinen Fachwerkhaus im Stadtzentrum das Jüdische Museum Emmendingen eingerichtet. Im Keller des restaurierten Gebäudes, das früher wenige Meter entfernt von der 1938 zerstörten Synagoge stand, kann heute das denkmalgeschützte Ritualbad und die dort neu eingerichtete Dauerausstellung besichtigt werden. Im ersten Stock werden die Geschichte des Orts und der Israelitischen Gemeinde in der Zeit der NS-Diktatur dokumentiert.

Der Verein für jüdische Geschichte und Kultur e.V. bietet in Kooperation mit der Stadt regelmäßig Veranstaltungen an.

Die Vorstandsvorsitzende des Vereins, Carola Grasse, und die Kuratorin der neuen Dauerausstellung in der Mikwe, Monika Miklis, führten durch das Haus. Weitere Mitglieder im Verein und die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Emmendingen, Olga Marjanovska, berichteten von der Zusammenarbeit.

Vortragsveranstaltung

Am Abend des ersten Exkursionstags fand im Rathaus Emmendingen eine Vortragsveranstaltung anlässlich der Gedenkstättenreise der Landtagspräsidentin statt.
Der Freiburger Historiker Prof. Jörn Leonhard befasste sich mit europäischen Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart.

  • Wie erinnerten Menschen den Großen Krieg?
  • Wie gingen sie nach 1918 mit Trauma und Trauer um?
  • Was verraten uns die Gedächtnisse des Großen Krieges über den Stellenwert des Krieges in den europäischen Gesellschaften?
  • Und in welchem Verhältnis standen offizielles Gedenken und individuelle Erinnerung?

Die Kluft zwischen den bald nach Kriegsende einsetzenden offiziellen Erinnerungskulturen europäischer Gesellschaften in den zahllosen Kriegsdenkmälern, Gedenktagen und den Darstellungen des Krieges in Schulbüchern auf der einen Seite und der Einmaligkeit jeder einzelnen Kriegserfahrung auf der anderen wurde ein wesentliches Kennzeichen der Zwischenkriegszeit. Offizielles Gedenken und individuelle Erinnerung mochten sich überschneiden, aber das eine ging im anderen niemals auf. Vor diesem Hintergrund fragte der Vortrag nach den Unterschieden zwischen nationalen Gedenkkulturen nach 1918 und den Rhythmen der europäischen Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg bis in unsere Gegenwart.


Grußworte

Die Vortragsveranstaltung im vollbesetzten Ratssaal begann mit einem Grußwort des Emmendinger Oberbürgermeisters Stefan Schlatterer. Anschließend fasste Landtagspräsidentin Aras in ihren Worten zur Begrüßung die Eindrücke des Tages zusammen. Sie nutzte die Gelegenheit zu grundsätzlichen Anmerkungen zur Bedeutung einer breit verankerten Erinnerungskultur, die Werte vermittelt und ausgerichtet ist auf die Würde des Einzelnen und den Schutz von Minderheiten.

Download des Grußworts von Landtagspräsidentin Aras

Nach dem Vortrag lud die Stadt Emmendingen zu einem Empfang. Die Veranstaltung wurde von der Stadt gemeinsam mit dem Landtag von Baden-Württemberg, dem Verbund Gedenkstätten südlicher Oberrhein und der Landeszentrale für politische Bildung ausgerichtet.

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Vierte Station: Breisach im Breisgau

Das mehr als dreihundert Jahre alte jüdische Schulhaus wurde im Jahr 2000 vom Förderverein Ehemaliges Jüdisches Gemeindehaus Breisach e.V. erworben. Die dritte jüdische Gemeinde (1640 bis 1940) hatte das Gebäude gekauft, um eine Schule einzurichten. Nach der Zerstörung der Synagoge 1938 richtete die Gemeinde hier einen Betsaal ein.

Heute ist das Blaue Haus eine Bildungs- und Gedenkstätte für die Geschichte der Juden am Oberrhein.

Der Verein arbeitet in Kooperation mit jüdischen Familien weltweit an einer Dokumentation der Schicksale.

Die Vorsitzende des Vereins, Dr. Christine Walesch-Schneller, und ihr Team empfingen die Landtagspräsidentin zunächst mit einem Austausch. Dann folgte eine Führung durch das Haus.

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Fünfte Station: Natzwiller

Das Konzentrationslager Natzweiler-Struthof im Elsass war das einzige auf französischem Boden. Es wurde im Mai 1941 auf dem Anwesen der von der SS beschlagnahmten Herberge „Le Struthof“ eröffnet. Hinzu kam ein Netz von KZ-Außenlagern beiderseits des Rheins.

Insgesamt etwa 52.000 Häftlinge durchliefen Haupt- und/oder Außenlager. Etwa 22.000 von ihnen starben an Hunger, Krankheit oder durch Mord. Die französische Gedenkstätte, das Centre européen du résistant déporté (CERD), veranschaulicht die Leidensgeschichte der Opfer.

Das CERD und die insgesamt zwölf Außenlager-Gedenkstätten in Baden-Württemberg arbeiten seit gut zwei Jahrzehnten zusammen.

Vertreterinnen des CERD empfingen die Besuchergruppe der Landtagspräsidentin. Es folgten eine Führung über das Gelände durch die Vorstandsvorsitzende des Verbunds der Gedenkstätten im ehemaligen KZ-Komplex Natzweiler, Dorothee Roos. 

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Stellungnahme des Verbunds Gedenkstätten südlicher Oberrhein

Der Verbund Gedenkstätten südlicher Oberrhein würdigte die Reise der Landtagspräsidentin in einer Stellungnahme:

Die Arbeitsreise, an der auch weitere Mitarbeiter des Landtages teilnahmen, zeigte die Wertschätzung des Landtages für die bürgergesellschaftlich getragene Gedenkarbeit. Für die Gedenkstätten war dieser Besuch eine gute Möglichkeit, ihr vielfältiges Engagement, ihre Angebote und ihre Vernetzung mit Schulen, Kommunen usw. vorzustellen. Die Gedenkstätten konnten auch die Herausforderungen darstellen, die durch Generationenwechsel, Einsparungen in der Lehrerfortbildung und der Zurückhaltung mancher Kommunen und des Landkreises entstehen.

Die Landtagspräsidentin zeigte sich bestens vorbereitet und es war sofort spürbar, das dies für sie keine Routine, sondern ein echtes Anliegen war. Das Gespräch mit ihr machte deutlich, dass es ihr mit der an die Mitarbeitenden gerichteten Frage ernst ist: „Ich will raushören und mitnehmen: Wie kann ich Sie unterstützen?”. Sie erwies sich als gute Zuhörerin und würdigte den Ideenreichtum der Gedenkstätten als “begehbare Geschichtsorte”: Sie versprach, sich für eine „zeitgemäße und mutige Gedenkkultur einzusetzen“.

Diese trägt wesentlich zum Erhalt einer demokratischen und offenen Gesellschaft bei und ist ein „Mittel gegen Rassismus und Ausgrenzung“. Die Gedenkstätten sind mit der Landtagspräsidentin einig in ihrer Absage gegen die immer wieder aufkommende Forderung nach einem „Schluss-Strich“: „Gerade ein so brutaler und tiefer Einschnitt wie der Holocaust ist eben ‚kein Vogelschiss‘, den man vom glänzenden Lack ‚made in Germany‘ abwischen kann“.

Die Gedenkstätten am südlichen Oberrhein in Offenburg, Kippenheim, Emmendingen, Breisach, Sulzburg und Haslach stellen fest, sie fühlten sich durch den Besuch von Landtagspräsidentin Muhterem Aras ermutigt, die Erinnerung an die menschenverachtende Entrechtung und Ausgrenzung der Zeit des Nationalsozialismus wachzuhalten und einer Wiederholung so vorzubeugen.

Erklärung des Verbunds im Internet: www.gedenkstaetten-suedlicher-oberrhein.de

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