Handeln gegen Antiziganismus!

Staatsvertrag, Handlungsstrategien und Forschung

Was geschieht gegen Antiziganismus? Der Diskriminierung von Sinti und Roma wird in Baden-Württemberg entgegengewirkt: Als erstes Bundesland unterzeichnete es einen Staatsvertrag. Auch die Forschung im Bundesland richtet ihren Fokus nun verstärkt auf Sinti und Roma und den Antiziganismus. Verschiedene Handlungsstrategien helfen, Antiziganismus vorzubeugen und mit ihm umzugehen.

Der Staatsvertrag

des Landes Baden-Württemberg mit dem Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg e.V.


Im November 2013 schloss Baden-Württemberg als erstes Bundesland einen Staatsvertrag mit dem Landesverband Deutscher Sinti und Roma. Er stellt die Anerkennung und Förderung der Minderheit auf eine rechtsverbindliche Grundlage. Gemeinsames Ziel ist es, der Diskriminierung entgegenzuwirken und den gesellschaftlichen Antiziganismus zu bekämpfen.

Hier können Sie den gesamten Staatsvertrag nachlesen: Drucksache Landtag 15/4528.

 

Wie fördert Baden-Württemberg Sinti und Roma? Unser Video erklärt es!

Video - Definition


Deutsche Dänen, Friesen, Sorben und Wenden sowie die deutschen Sinti und Roma: Vier anerkannte nationale Minderheiten leben in Deutschland. Sie eint, dass sie eine eigene Sprache und Kultur besitzen und hierzulande seit Jahrhunderten heimisch sind. Der Status als anerkannte Minderheit verpflichtet zu einem besonderen Schutz, der sich unter anderem aus dem Rahmenübereinkommen des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten und der Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen ergibt.

Für diesen Schutz sind nach dem föderalen System in Deutschland vor allem die Länder zuständig. Dieser Verpflichtung ist Baden-Württemberg am 28. November 2013 nachgekommen, indem das Land – als erstes Bundesland in Deutschland – einen Staatsvertrag mit dem Landesverband Deutscher Sinti und Roma abgeschlossen hat.

Darin bekennt sich das Land ausdrücklich zur besonderen Verantwortung, die aus der Geschichte der NS-Verfolgung und des Völkermords erwächst.

In der Präambel heißt es unter anderem:

„Dieses Unrecht ist erst beschämend spät politisch anerkannt und noch nicht ausreichend aufgearbeitet worden. Auch der Antiziganismus ist noch immer existent und nicht überwunden.“

Inhalte des Staatsvertrags

Konkret sollen die Geschichte und Gegenwart der Sinti und Roma Eingang in den Schulunterricht finden – und zwar so, „dass auch möglichen Vorurteilen entgegengetreten wird“. Auch eine Forschungsstelle zur Geschichte und Kultur sowie zum Antiziganismus soll eingerichtet werden. Letzteres ist bereits verwirklicht.

Der Landesverband Deutscher Sinti und Roma wird laut Staatsvertrag mit jährlich 500.000 Euro gefördert, wobei sich der Verband verpflichtet, einen Teil der Summe dazu zu verwenden, „bleibeberechtigte nichtdeutsche Sinti und Roma bei ihrer Integration in die Gesellschaft zu unterstützen.“ Zudem ist ein Rat für die Angelegenheiten der deutschen Sinti und Roma im Land eingerichtet worden, der aus je sechs Vertretern des Landes sowie des Verbandes Deutscher Sinti und Roma besteht. Der Rat hat bereits mit Beratungen über einen neuen Staatsvertrag begonnen, da der aktuelle bis Ende 2018 ausläuft.

Literatur

Staatsvertrag, Bildung und Kultur: Zur aktuellen Lage der Sinti und Roma in Baden-Württemberg, Interview mit Daniel Strauß, Vorsitzender des Verbands Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg, in: Peter Steinbach u.a. [Hrsg.]: Entrechtet – verfolgt – vernichtet. NS-Geschichte und Erinnerungskultur im deutschen Südwesten, Stuttgart 2016, S. 328–332.

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Handlungsstrategien


Individualität aufzeigen

Die Unwissenheit über die Geschichte der Sinti und Roma ist groß – so erlebt es der Historiker Andreas Pflock bei Besuchern des Heidelberger Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma, wo er als wissenschaftlicher Mitarbeiter arbeitet. Was aber sind zeitgemäße Formen, um Schülern die nationalsozialistischen Verbrechen zu vermitteln?

Pflock empfiehlt, mit „dem Spannungsfeld zwischen Selbst- und Fremdbild“ zu arbeiten. Jeder Besucher bringe sein persönliches „Zigeuner“-Bild mit und erwarte zunächst, dass dieses bestätigt werde. Sobald sich Besucher aber Selbstzeugnisse von Sinti und Roma ansähen, etwa Familienfotos, seien sie irritiert und würden zum Nachdenken angeregt: „Da wird menschliche Individualität aufgezeigt in einer zunächst als homogen wahrgenommenen Minderheit.“ Ein Gegenwartsbezug lässt sich den Erfahrungen des Historikers zufolge herstellen, indem man den noch immer gegenwärtigen Rassismus anspricht.


Spurensuche in Stuttgart

Die Stuttgarter Bildungseinrichtung „Lernort Geschichte“ hat eine Spurensuche für junge Menschen entwickelt, die nach einem Workshop in der Schule auf einen Stadtrundgang durch Stuttgart führt. Eine der Stationen ist das Jugendamt, das zu NS-Zeiten Sinti-Kinder ihren Familien entriss und in Heimen unterbrachte, wo sie als Studienobjekte missbraucht und schließlich deportiert wurden.  

Weiter zu: Lernort Geschichte

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Die Strategie des „Empowerment“

Wenn man einem Menschen nichts zutraut, traut dieser sich irgendwann auch selbst nichts mehr zu: Nach diesem Prinzip vollziehe sich „antiziganistische Identitätsbildung“, sagt Merfin Demir, der in der Roma-Jugendverbandsarbeit aktiv ist. So wurden vielen Sinti und Roma schon als Kinder unterstellt, sie „gehörten auf die Sonderschule“. Eine antiziganistische Fremdzuschreibung werde dadurch allzu oft zur Selbstzuschreibung. Um dies zu verhindern, setzt Demir in der Roma-Jugendarbeit Strategien des „Empowerment“ ein – also Maßnahmen, die zu einem höheren Grad an Selbstbestimmung führen und das Gefühl der eigenen Machtlosigkeit überwinden helfen.

Eine Strategie seien Übungen, um gezielt den Fokus zu verlagern. Merfin Demir bittet Teilnehmende, sich alle blauen Gegenstände im Raum zu merken, dann die Augen zu schließen – um anschließend zu fragen, welche weißen Gegenstände sich im Raum befinden. An weiße Gegenstände kann sich jedoch kaum jemand erinnern. Diese Übung zeige, so Demir: Wie man die Umgebung – oder sich selbst oder andere Personen – wahrnehme, hänge stark von vorgeprägten oder vorgegebenen Mustern ab. Durch gezielte Fokusverlagerung könne man sich davon aber wieder lösen. „Wie ich Identität definiere, ist letztlich eine individuelle Entscheidung“, so Merfin Demir.

Weitere Infos: Strategien des Empowerments. Zusammengefasste Thesen von Merfin Demir

 

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Die Öffentlichkeit nutzen

Jovica Arvanitelli leitet die Beratungsstelle für nichtdeutsche Roma in Mannheim. Er verweist darauf, dass in anderen Ländern mit einer weitaus restriktiveren Asylpraxis wie der Schweiz Asylanträge aus Westbalkanländern deutlich häufiger anerkannt würden als in Deutschland – für ihn ein Hinweis darauf, dass Roma aus diesen Ländern hierzulande zu oft um ihre Rechte gebracht werden. So lange in der Mehrheitsgesellschaft eine negative Meinung über Roma vorherrsche, sei keine gute Minderheitenpolitik möglich, sagt Arvanitelli. Er will von der Bürgerrechtsarbeit der deutschen Sinti lernen, um nichtdeutschen Roma zu ihren Rechten zu verhelfen: auf Missstände aufmerksam machen, an die Öffentlichkeit gehen.


"Sicheren Herkunftsländer" überprüfen

„Sicherer Herkunftsstaat“ ist ein Begriff aus dem deutschen Asylrecht: Es wird angenommen, dass in diesen Staaten keine politische Verfolgung stattfindet. Asylanträge von Menschen aus diesen Staaten werden in der Regel abgelehnt. In den Jahren 2014 und 2015 wurden die Staaten Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Serbien, Montenegro und Albanien sowie das Kosovo als sichere Herkunftsstaaten eingestuft – Länder also, aus denen auch viele Antragsteller mit Roma-Hintergrund nach Deutschland gekommen sind.

Der Ludwigsburger Rechtsanwalt Juan-Ramón Munuera bezweifelt jedoch, dass die sicheren Herkunftsländer auch für Roma sicher seien. Die Menschenrechte von Roma würden in den Westbalkanländern häufig nicht gewahrt. „Die Diskriminierung ist für viele aber so alltäglich, dass sie diese bei den Asylbehörden nicht vermitteln können.“ Das Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge belehre die Antragsteller nur in schriftlicher Form über ihre Rechte. Dies werde von vielen Roma aber nicht verstanden.

Weitere Informationen: Aufklärungs- und Bildungsarbeit gegen Antiziganismus

Wie gestaltet sich der Lebensalltag von Sinti und Roma heute? Welchen Formen von Diskriminierung und Ausgrenzung sind sie ausgesetzt? Welche Diskriminierung erfahren sie durch staatliche Institutionen, Beho?rden und Verwaltungen? Und wie kann unbewusste Diskriminierung überwunden werden?

Diesen Fragen widmet sich das Bildungsprogramm „Kompetent gegen Antiziganismus“ mit Vorträgen, Erfahrungsberichten von Sinti und Roma sowie Workshops und Planspielen, die sich an realen Fällen orientieren.

Weitere Informationen

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Forschung

Forschungsstelle Antiziganismus der Universität Heidelberg

Im Juli 2017 hat die „Forschungsstelle Antiziganismus“, angesiedelt am Historischen Seminar der Universität Heidelberg, wie im Staatsvertrag vorgesehen, ihre Arbeit aufgenommen. Im Austausch mit anderen Disziplinen widmet sie sich der Grundlagenforschung zu Antiziganismus in Europa vom ausgehenden Mittelalter bis heute, baut eine Fachbibliothek auf, sammelt neue Quellen und bietet Lehrveranstaltungen, auch für angehende Lehrkräfte im Fach Geschichte.

Zur Webseite der Forschungsstelle

"Antiziganismusforschung kann nur gewährleistet werden, wenn an Universitäten dauerhafte und disziplinübergreifende Forschungsstrukturen geschaffen werden. Dass die Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg gefördert wird, ist ein weiteres Ergebnis der Bemühungen der Bürgerrechtsorganisationen von Sinti und Roma um den Abbau von Vorurteilen und Diskriminierung."

Daniela Gress
Forschungsstelle Antiziganismus

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