Baustein

Die Nacht als die Synagogen brannten


Texte und Materialien zum 9. November 1938

als Bausteine ausgearbeitet

Hrsg: LpB, 1998

 
Inhalt

 
Inhaltsverzeichnis

 

Deutungen


Ulrich Herbert: Von der "Reichskristallnacht" zum Holocaust. Der 9. November und das Ende des "Radau-Antisemitismus", in: Ulrich Herbert: Arbeit, Volkstum, Weltanschauung. Über Fremde und Deutsche im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M, 1995, S. 76f.

In rückwärtiger Sicht waren die Aktionen der sogenannten »Reichskristallnacht« insofern ein Wendepunkt, als die öffentliche Aufregung über die als barbarisch apostrophierten Methoden der SA und des Straßenmobs das Ende der tradierten Formen des Antisemitismus in Deutschland bedeutete und den Formenwandel hin zum Konzept des »wissenschaftlich fundierten«, weltanschaulich legitimierten, leidenschaftslosen, von staatlichen Stellen in rechtsförmigem, gesetzlichem Gewand exekutierten, »modernen« Antisemitismus, zur umfassenden »Säuberung des deutschen Volkskörpers« einleitete.

Das Ausmaß an Haß und Gewalt, an Zerstörung und Vernichtung, das in den antijüdischen Pogromen des 9. November zum Ausbruch kam, war in der jüngeren Geschichte Deutschlands und Westeuropas ohne Beispiel. Wenn die brennenden Synagogen vom November 1938 heute vielfach als Fanal, als Vorzeichen des drei Jahre später beginnenden Volksmordes angesehen werden, so geschieht dies gewiß zu Recht. Aber dennoch ist vor allzu engen Verbindungen zu warnen – ebenso, wie vor allzu schnellen Analogien zu aktuellen Verhältnissen. Die Entwicklung von den Novemberpogromen bis zu den Gaskammern war keine automatische. Die betrunkenen Mordbanden und die ihnen applaudierenden Gaffer und Claqueure trugen dazu bei, die Voraussetzungen für den Völkermord zu schaffen, aber sie initiierten ihn nicht. Der Holocaust war ein Staatsverbrechen, durchgeführt nicht vom Straßenmob, sondern von ordentlichen deutschen Ämtern, Behörden und Ministerien, von Richtern, Polizeibeamten und Verwaltungsjuristen – vom geräuschlos und effizient funktionierenden deutschen Staatsapparat. Es bedurfte einer Unzahl von Entscheidungen einzelner, von Erlassen und Anordnungen, von Verwaltungsakten und Polizeiaktionen, um diesen Prozeß zu vollziehen. Auch nach dem 9. November gab es keinen Automatismus des Völkermords. Aber indem der Staatsapparat und nicht mehr die Straße das Gesetz des Handelns nach sich zog, wurde auch das Unfaßbare möglich, weil es in den Formen des legalen Verwaltungshandelns vollzogen wurde.

Die Exzesse des 9. November kann man womöglich als »irrational« bezeichnen; die seitdem erfolgte Entwicklung vermutlich nicht, denn sie beruhte gerade nicht auf Leidenschaften, Haß oder Mordlust, sondern auf einem Konzept vom völkischen Staat, von politischer Biologie und Rassenhygiene auf der Basis einer zu dieser Zeit für wissenschaftlich gehaltenen, im Gegensatz zu Metaphysik und Idealismus des 19. Jahrhunderts geradezu als materialistisch empfundenen Lehre, und auf den lautlos funktionierenden, rechtsförmigen Methoden des modernen Staates.

Insofern wirken die Ereignisse der Reichskristallnacht vielleicht tatsächlich wie ein Rückfall in die Barbarei des Mittelalters, und ein Gedenken an diesen Tag hat insofern etwas Beruhigendes, als es sich mit etwas Anachronistischem und evident Unwiederholbarem beschäftigt. Die nach dem 9. November eingetretene Entwicklung aber ist für das Gedenken sehr viel beunruhigender, weil wir darin das Gesicht der modernen Gesellschaft erkennen

Leni Yahil: "Reichskristallnacht", in: Eberhard Jäckel, Peter Longerich, Julius H. Schoeps (Hg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, Bd. 3, 2. Aufl. München 1998 (1993), S. 1209f.

Göring lenkte nun mit Hitler zusammen die "Judenpolitik" des Reiches. Goebbels verlor hingegen an Einfluß. Die Methoden der SS und des SD unter Heydrich bestimmten das Vorgehen. Umstritten ist bis heute, ob die "Reichskristallnacht" improvisiert oder geplant war. Auf jeden Fall markiert sie einen Wendepunkt. Sie öffnete den Weg zur vollständigen Erschütterung der Position der Juden in Deutschland und war der erste Schritt zur Endlösung.

 

Wolfgang Benz: Der Novemberpogrom 1938, in: Wolfgang Benz (Hg.): Die Juden in Deutschland 1933-1945. Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft, München 1988, S. 499.

Die Ereignisse am und um den 9. November 1938 markierten in mehrfacher Sicht einen Wendepunkt – nicht nur in der Geschichte des nationalsozialistischen Deutschland. Der Novemberpogrom, als Reichskristallnacht im Umgangston verniedlicht, bedeutete den Rückfall in die Barbarei; in einer Nacht wurden die Errungenschaften der Aufklärung, der Emanzipation, der Gedanke des Rechtsstaats und die Idee von der Freiheit des Individuums zuschanden. Seit dem 15. Jahrhundert hatte es in Mitteleuropa solche Judenverfolgung nicht mehr gegeben, aber nicht nur dies, denn die mittelalterlichen Pogrome fanden statt als unkontrollierte Aggressionen zusammengelaufener Volkshaufen, in denen sich soziale und wirtschaftliche Spannungen auf dem Hintergrund religiös motivierter Judenfeindschaft entluden. Regelrecht programmiert und in Szene gesetzt von staatlichen Instanzen war vor dem 9. November 1938 kein einziger solcher antisemitischer Aufruhr gewesen.

Im November 1938 wurde den Juden in Deutschland, und zugleich der Weltöffentlichkeit, auf die man bislang noch Rücksicht genommen hatte, klargemacht, daß für sie die bürgerlichen Rechte und Gesetze nicht mehr galten. Mit keinem anderen Ereignis hatte das NS-Regime so eindeutig und kaltblütig demonstriert, daß es auch auf den Schein rechtsstaatlicher Tradition nun keinen Wert mehr legte.

 

Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 1, Frankfurt/M 1990 (1961/82), S. 56f

Der Vernichtungsprozeß entfaltete sich nach einem feststehenden Schema. Er entsprang gleichwohl keinem grundlegenden Plan. 1933 hätte kein Bürokrat vorhersagen können, welche Art von Maßnahmen man 1938 ergreifen würde, noch war es 1938 möglich, den Ablauf des Geschehens im Jahre 1942 vorauszusehen. Die Abfolge der einzelnen Schritte des Vernichtungsprozesses sah folgendermaßen aus: Zuerst definierte man den Begriff "Jude"; dann traten Enteignungsmaßnahmen in Kraft; es folgte die Konzentration der Juden in Ghettos; schließlich fiel die Entscheidung, das europäischen Judentum auszulöschen. Der Begriff des Vernichtungsprozesses schließt die im vorausgehenden Kapitel beschriebenen Parteiaktionen aus. ["Reichskristallnacht"] Daher verschwanden sie nach 1938 in Deutschland völlig und traten in den besetzten Gebieten sporadisch auf. Die Definition der Juden scheint im Vergleich zu den blutigen Ausschreitungen des Jahres 1938 eine relativ harmlose Maßnahme gewesen zu sein; ihre Bedeutung ist weitaus größer da die Definition des Opfers eine entscheidende Voraussetzung für das weitere Vorgehen war [...] sie hatte jedoch administrative Kontinuität zur Folge. Darin liegt der wesentliche Unterschied zwischen einem Pogrom und einem Vernichtungsprozeß. Ein Pogrom führt lediglich zu Personen- und Sachschäden, verlangt keine Folgeschritte. Dagegen tritt eine einem Vernichtungsprozeß zugehörende Maßnahme niemals allein auf [...] jeder Schritt in einem Vernichtungsprozeß enthält den Keim eines weiteren Schrittes. Der Vernichtungsprozeß durchlief zwei Phasen: Emigration (1933-40) und Ausrottung (1941-45). Trotz dieses Kurswechsels blieb die administrative Kontinuität des Prozesses ungebrochen; die Ursache für dieses Phänomen ist in der Tatsache zu suchen, daß die drei vor 1940 eingeleiteten Schritte (Definition, Enteignung, Konzentration) nicht nur Auslöser der Emigration, sondern zugleich Vorstufen des Vernichtungsvorgangs waren [...].

 

Michael Wildt: Gewalt gegen Juden in Deutschland 1933-1939, in: Werkstatt Geschichte 18, 6. Jg. (1997), S. 59f. und 79f.Es ist in Anlehnung an Raul Hilbergs Schema: Definition-Enteignung-Konzentration-Ausrottung üblich geworden, der nationalsozialistischen Politik gegen die Juden eine zielgerichtete Entwicklung zu unterstellen, die in klaren, abgrenzbaren und eindeutigen Phasen verlief. Dadurch entsteht erstens der problematische Eindruck, es habe eine ebenso fest umrissene wie lineare antisemitische Politik des NS-Regimes gegeben. Zweitens spiegelt dieses Schema eine Sicht "von oben" wieder, in der die Verfolgung der Juden als Abfolge staatlicher Repressionsakte charakterisiert, Politik als Staatshandeln definiert ist, wohingegen die Praxis des gesellschaftlichen Antisemitismus der Nachbarn, Kollegen, Bekannten und Verwandten ausgeblendet bleibt. Vor allem aber gerät drittens die stete, antisemitische Gewalt aus dem Blick, der die jüdische Bevölkerung in Deutschland ausgesetzt war...Körperliche Gewalt, Mißhandlungen und Ausschreitungen mit tödlichen Folgen gehörten auch vor 1939 zur Praxis nationalsozialistischer Politik gegen die Juden. Die "Entregulierung" der deutschen Gesellschaft in der NS-Diktatur und die "Entgrenzung" von Gewalt, deren Täter, wenn es gegen "die Juden" ging, nicht mehr mit Strafverfolgung rechnen mußte, sondern im Gegenteil durch Parteiinstanzen ermutigt wurden, leistete offenkundig einen tätlichen Antisemitismus Vorschub, der vor dem Pogrom nur in den Köpfen spukte. Der Terror "von oben" wurde getragen von einer zunehmenden und ausufernden Gewalt "von unten", an der eine wachsende Zahl der Bevölkerung Anteil hatte oder sie zumindest duldete. Antisemitismus "geschieht" nicht, sondern wird von handelnden Menschen gedacht, getan, praktiziert. Schon vor dem Novemberpogrom war die Atmosphäre der deutschen Gesellschaft gewalttätig aufgeladen; Juden anzugreifen, ihre Synagogen und Häuser zu zerstören, Menschen zu schlagen, zu verletzen oder gar zu töten, war nicht mehr allein das Werk weniger.

 


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