Deutungen
Ulrich Herbert: Von der "Reichskristallnacht" zum Holocaust. Der 9.
November und das Ende des "Radau-Antisemitismus", in: Ulrich Herbert:
Arbeit, Volkstum, Weltanschauung. Über Fremde und Deutsche im 20.
Jahrhundert, Frankfurt/M, 1995, S. 76f.
In rückwärtiger Sicht waren die Aktionen der sogenannten
»Reichskristallnacht« insofern ein Wendepunkt, als die öffentliche
Aufregung über die als barbarisch apostrophierten Methoden der SA und
des Straßenmobs das Ende der tradierten Formen des Antisemitismus in
Deutschland bedeutete und den Formenwandel hin zum Konzept des
»wissenschaftlich fundierten«, weltanschaulich legitimierten,
leidenschaftslosen, von staatlichen Stellen in rechtsförmigem,
gesetzlichem Gewand exekutierten, »modernen« Antisemitismus, zur
umfassenden »Säuberung des deutschen Volkskörpers« einleitete.
Das Ausmaß an Haß und Gewalt, an Zerstörung und Vernichtung, das in
den antijüdischen Pogromen des 9. November zum Ausbruch kam, war in der
jüngeren Geschichte Deutschlands und Westeuropas ohne Beispiel. Wenn die
brennenden Synagogen vom November 1938 heute vielfach als Fanal, als
Vorzeichen des drei Jahre später beginnenden Volksmordes angesehen
werden, so geschieht dies gewiß zu Recht. Aber dennoch ist vor allzu
engen Verbindungen zu warnen – ebenso, wie vor allzu schnellen Analogien
zu aktuellen Verhältnissen. Die Entwicklung von den Novemberpogromen bis
zu den Gaskammern war keine automatische. Die betrunkenen Mordbanden und
die ihnen applaudierenden Gaffer und Claqueure trugen dazu bei, die
Voraussetzungen für den Völkermord zu schaffen, aber sie initiierten ihn
nicht. Der Holocaust war ein Staatsverbrechen, durchgeführt nicht vom
Straßenmob, sondern von ordentlichen deutschen Ämtern, Behörden und
Ministerien, von Richtern, Polizeibeamten und Verwaltungsjuristen – vom
geräuschlos und effizient funktionierenden deutschen Staatsapparat. Es
bedurfte einer Unzahl von Entscheidungen einzelner, von Erlassen und
Anordnungen, von Verwaltungsakten und Polizeiaktionen, um diesen Prozeß
zu vollziehen. Auch nach dem 9. November gab es keinen Automatismus des
Völkermords. Aber indem der Staatsapparat und nicht mehr die Straße das
Gesetz des Handelns nach sich zog, wurde auch das Unfaßbare möglich,
weil es in den Formen des legalen Verwaltungshandelns vollzogen wurde.
Die Exzesse des 9. November kann man womöglich als »irrational«
bezeichnen; die seitdem erfolgte Entwicklung vermutlich nicht, denn sie
beruhte gerade nicht auf Leidenschaften, Haß oder Mordlust, sondern auf
einem Konzept vom völkischen Staat, von politischer Biologie und
Rassenhygiene auf der Basis einer zu dieser Zeit für wissenschaftlich
gehaltenen, im Gegensatz zu Metaphysik und Idealismus des 19.
Jahrhunderts geradezu als materialistisch empfundenen Lehre, und auf den
lautlos funktionierenden, rechtsförmigen Methoden des modernen Staates.
Insofern wirken die Ereignisse der Reichskristallnacht vielleicht
tatsächlich wie ein Rückfall in die Barbarei des Mittelalters, und ein
Gedenken an diesen Tag hat insofern etwas Beruhigendes, als es sich mit
etwas Anachronistischem und evident Unwiederholbarem beschäftigt. Die
nach dem 9. November eingetretene Entwicklung aber ist für das Gedenken
sehr viel beunruhigender, weil wir darin das Gesicht der modernen
Gesellschaft erkennen
Leni Yahil: "Reichskristallnacht", in: Eberhard Jäckel, Peter
Longerich, Julius H. Schoeps (Hg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die
Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, Bd. 3, 2. Aufl. München
1998 (1993), S. 1209f.
Göring lenkte nun mit Hitler zusammen die "Judenpolitik" des Reiches.
Goebbels verlor hingegen an Einfluß. Die Methoden der SS und des SD
unter Heydrich bestimmten das Vorgehen. Umstritten ist bis heute, ob die
"Reichskristallnacht" improvisiert oder geplant war. Auf jeden Fall
markiert sie einen Wendepunkt. Sie öffnete den Weg zur vollständigen
Erschütterung der Position der Juden in Deutschland und war der erste
Schritt zur Endlösung.
Wolfgang Benz: Der Novemberpogrom 1938, in: Wolfgang Benz (Hg.): Die
Juden in Deutschland 1933-1945. Leben unter nationalsozialistischer
Herrschaft, München 1988, S. 499.
Die Ereignisse am und um den 9. November 1938 markierten in
mehrfacher Sicht einen Wendepunkt – nicht nur in der Geschichte des
nationalsozialistischen Deutschland. Der Novemberpogrom, als
Reichskristallnacht im Umgangston verniedlicht, bedeutete den Rückfall
in die Barbarei; in einer Nacht wurden die Errungenschaften der
Aufklärung, der Emanzipation, der Gedanke des Rechtsstaats und die Idee
von der Freiheit des Individuums zuschanden. Seit dem 15. Jahrhundert
hatte es in Mitteleuropa solche Judenverfolgung nicht mehr gegeben, aber
nicht nur dies, denn die mittelalterlichen Pogrome fanden statt als
unkontrollierte Aggressionen zusammengelaufener Volkshaufen, in denen
sich soziale und wirtschaftliche Spannungen auf dem Hintergrund religiös
motivierter Judenfeindschaft entluden. Regelrecht programmiert und in
Szene gesetzt von staatlichen Instanzen war vor dem 9. November 1938
kein einziger solcher antisemitischer Aufruhr gewesen.
Im November 1938 wurde den Juden in Deutschland, und zugleich der
Weltöffentlichkeit, auf die man bislang noch Rücksicht genommen hatte,
klargemacht, daß für sie die bürgerlichen Rechte und Gesetze nicht mehr
galten. Mit keinem anderen Ereignis hatte das NS-Regime so eindeutig und
kaltblütig demonstriert, daß es auch auf den Schein rechtsstaatlicher
Tradition nun keinen Wert mehr legte.
Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 1,
Frankfurt/M 1990 (1961/82), S. 56f
Der Vernichtungsprozeß entfaltete sich nach einem feststehenden
Schema. Er entsprang gleichwohl keinem grundlegenden Plan. 1933 hätte
kein Bürokrat vorhersagen können, welche Art von Maßnahmen man 1938
ergreifen würde, noch war es 1938 möglich, den Ablauf des Geschehens im
Jahre 1942 vorauszusehen. Die Abfolge der einzelnen Schritte des
Vernichtungsprozesses sah folgendermaßen aus: Zuerst definierte man den
Begriff "Jude"; dann traten Enteignungsmaßnahmen in Kraft; es folgte die
Konzentration der Juden in Ghettos; schließlich fiel die Entscheidung,
das europäischen Judentum auszulöschen. Der Begriff des
Vernichtungsprozesses schließt die im vorausgehenden Kapitel
beschriebenen Parteiaktionen aus. ["Reichskristallnacht"] Daher
verschwanden sie nach 1938 in Deutschland völlig und traten in den
besetzten Gebieten sporadisch auf. Die Definition der Juden scheint im
Vergleich zu den blutigen Ausschreitungen des Jahres 1938 eine relativ
harmlose Maßnahme gewesen zu sein; ihre Bedeutung ist weitaus größer da
die Definition des Opfers eine entscheidende Voraussetzung für das
weitere Vorgehen war [...] sie hatte jedoch administrative Kontinuität
zur Folge. Darin liegt der wesentliche Unterschied zwischen einem Pogrom
und einem Vernichtungsprozeß. Ein Pogrom führt lediglich zu Personen-
und Sachschäden, verlangt keine Folgeschritte. Dagegen tritt eine einem
Vernichtungsprozeß zugehörende Maßnahme niemals allein auf [...] jeder
Schritt in einem Vernichtungsprozeß enthält den Keim eines weiteren
Schrittes. Der Vernichtungsprozeß durchlief zwei Phasen: Emigration
(1933-40) und Ausrottung (1941-45). Trotz dieses Kurswechsels blieb die
administrative Kontinuität des Prozesses ungebrochen; die Ursache für
dieses Phänomen ist in der Tatsache zu suchen, daß die drei vor 1940
eingeleiteten Schritte (Definition, Enteignung, Konzentration) nicht nur
Auslöser der Emigration, sondern zugleich Vorstufen des
Vernichtungsvorgangs waren [...].
Michael Wildt: Gewalt gegen Juden in Deutschland 1933-1939, in:
Werkstatt Geschichte 18, 6. Jg. (1997), S. 59f. und 79f.Es ist in
Anlehnung an Raul Hilbergs Schema:
Definition-Enteignung-Konzentration-Ausrottung üblich geworden, der
nationalsozialistischen Politik gegen die Juden eine zielgerichtete
Entwicklung zu unterstellen, die in klaren, abgrenzbaren und eindeutigen
Phasen verlief. Dadurch entsteht erstens der problematische Eindruck, es
habe eine ebenso fest umrissene wie lineare antisemitische Politik des
NS-Regimes gegeben. Zweitens spiegelt dieses Schema eine Sicht "von
oben" wieder, in der die Verfolgung der Juden als Abfolge staatlicher
Repressionsakte charakterisiert, Politik als Staatshandeln definiert
ist, wohingegen die Praxis des gesellschaftlichen Antisemitismus der
Nachbarn, Kollegen, Bekannten und Verwandten ausgeblendet bleibt. Vor
allem aber gerät drittens die stete, antisemitische Gewalt aus dem
Blick, der die jüdische Bevölkerung in Deutschland ausgesetzt
war...Körperliche Gewalt, Mißhandlungen und Ausschreitungen mit
tödlichen Folgen gehörten auch vor 1939 zur Praxis
nationalsozialistischer Politik gegen die Juden. Die "Entregulierung"
der deutschen Gesellschaft in der NS-Diktatur und die "Entgrenzung" von
Gewalt, deren Täter, wenn es gegen "die Juden" ging, nicht mehr mit
Strafverfolgung rechnen mußte, sondern im Gegenteil durch
Parteiinstanzen ermutigt wurden, leistete offenkundig einen tätlichen
Antisemitismus Vorschub, der vor dem Pogrom nur in den Köpfen spukte.
Der Terror "von oben" wurde getragen von einer zunehmenden und
ausufernden Gewalt "von unten", an der eine wachsende Zahl der
Bevölkerung Anteil hatte oder sie zumindest duldete. Antisemitismus
"geschieht" nicht, sondern wird von handelnden Menschen gedacht, getan,
praktiziert. Schon vor dem Novemberpogrom war die Atmosphäre der
deutschen Gesellschaft gewalttätig aufgeladen; Juden anzugreifen, ihre
Synagogen und Häuser zu zerstören, Menschen zu schlagen, zu verletzen
oder gar zu töten, war nicht mehr allein das Werk weniger.
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