Baustein

Die Nacht als die Synagogen brannten


Texte und Materialien zum 9. November 1938

als Bausteine ausgearbeitet

Hrsg: LpB, 1998

 
Inhalt

 
Inhaltsverzeichnis

 

 

Der historische Ort der "Reichskristallnacht" -
Novemberpogrom 1938


Das Geschehen während der "Reichskristallnacht" wird gemeinhin als eines der am besten dokumentierten Ereignisse der nationalsozialistischen Zeit bezeichnet. Erste wissenschaftliche Darstellungen, wie die von Hermann Graml, fallen bereits in die 50er Jahren. Seither erschien eine Vielzahl verschiedenartiger Studien: Gesamtdarstellungen, Sammelbände, Aufsätze sowohl mit nationaler, regionaler als auch lokaler Schwerpunktsetzung. Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre verfestigte sich durch neuere Studien von Wolfgang Benz, Ulrich Herbert und dem bereits erwähnten H. Graml unser bis heute gültiges Bild der "Reichskristallnacht" (vgl. Allgemeine Literatur).

Nach anfänglichen Diskussionen und Kontroversen gelten für die Geschichtswissenschaft inzwischen folgende Tatsachen als unabweisbar:

  1. Die Aktionen des 9. und 10. November 1938 waren von oben zentral angeordnet.
  2. Sie waren nicht längerfristig geplant oder vorbereitet, sondern kurzfristig nach dem Bekanntwerden des Attentats initiiert worden.
  3. Sie wurden in erster Linie von Parteistellen der NSDAP und Einheiten der SA sowie Behörden insbesondere der Polizei und Feuerwehr durchgeführt.
  4. Nach ihrer Ingangsetzung nahmen auch nicht-organisierte Menschen in fast allen Städten in nicht unerheblichem Maß an den Ausschreitungen teil; dies gilt insbesondere für die Plünderung jüdischer Geschäfte und Wohnhäuser, aber auch für tätliche Angriffe und körperliche Mißhandlungen.

Der Novemberpogrom fällt in eine historische Konstellation, in der die "Judenpolitik" des nationalsozialistischen Regimes an einem Wendepunkt angelangt war. Er markiert End- und Anfangspunkt einer Entwicklung. Die "Reichskristallnacht" vom 9. November 1938 steht für das Ende des Pogrom-Antisemitismus in Deutschland und den Wandel hin zu einer Entwicklung, die in einer "Endlösung der Judenfrage" im Sinne der Ermordung der europäischen Juden im deutschen Machtbereich mündete.

Historisch verorten läßt sich die "Reichskristallnacht" in einem komplexen Spannungsfeld von

a) außenpolitischen Erfolgen und Krisen (Annexion Österreichs, Sudetenkrise und Münchener Abkommen);

b) verstärkten rüstungsökonomischen Anstrengungen und Aufrüstung;

c) zunehmend heftiger werdenden antisemitischen Kampagnen, die die Austreibung der Juden aus Deutschland und vor allem die "endgültige Eliminierung" der Juden aus der Wirtschaft propagierten;

d) Machtkämpfen und Rivalitäten innerhalb des polykratisch strukturierten NS-Herrschaftsgefüges um Einfluß und Ressourcen sowie den Zugang zur charismatischen Führerpersönlichkeit Hitlers.

In dieser Situation wurde das Attentat auf den Legationsrat der deutschen Botschaft in Paris, Ernst vom Rath, durch einen siebzehnjährigen polnischen Juden zum Anlaß für einen gegen die Juden gerichteten und angeordneten Pogrom genommen – eine Mord-, Brandstiftungs- und Plünderungs-, in letzter Konsequenz auch Raub- und Vertreibungsaktion bisher nicht gekannten Ausmaßes.

Trotz des Fehlens einer längerfristigen Planung, ist eine konsequente Fortführung und Radikalisierung einer bereits 1933 begonnenen NS-"Judenpolitik" deutlich erkennbar. Dies gilt für die zunehmende Ausgrenzung, Entrechtung und Demütigung jüdischer Bürger sowie für ihre Aus- bzw. Vertreibung aus Deutschland. Daneben aber auch in einer zunehmend sich verstärkenden Politik der "Arisierung". Vorbereitet wurde diese definitive Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben durch die gesetzlich vorgeschriebene Anmeldepflicht jüdischer Vermögen über 5.000 Reichsmark im April 1938 und die Kennzeichnung jüdischer Wirtschaftbetriebe einen Monat später.

Anknüpfungspunkte für die "Reichskristallnacht" boten zwei "Aktionen" der Sicherheitspolizei und der Gestapo im Verlauf des Jahres 1938. Zum einen war dies die sogenannte "Juniaktion", in der mehr als 10.000 "Asoziale" in die Konzentrationslager eingewiesen wurden, darunter rund 1.500 Juden, die zu einer Gefängnisstrafe von mehr als einem Monat verurteilt waren. Erkennbar ist hier bereits die Intention, die im November in noch viel größerem Maßstab verwirklicht wurde, nämlich durch Terror und KZ-Haft sowohl die Austreibung der jüdischen Bürger als auch die "Arisierung" ihres Besitzes zu erzwingen.

Ende Oktober wurden etwa 17.000 Juden polnischer Staatsangehörigkeit verhaftet und an die polnische Grenze deportiert, wo sie, da Polen die Einreise verweigerte, im Niemandsland umherirrten. Dies gehört jedoch bereits zur unmittelbaren Vorgeschichte des Pogroms vom 9./10. November 1938, waren doch die Eltern des Pariser Attentäters Herschel Grünspan unter den Deportierten, was den Anlaß für das Attentat vom 7. November darstellte.

Im Ergebnis hatten die Ereignisse um und nach dem 9./10. November 1938 die von Goebbels nicht beabsichtigte Konsequenz, daß sich das Reich, und nicht die Partei, den Löwenanteil der jüdischen Vermögenswerte aneignete und daß die "Judenpolitik" des NS-Regimes an die SS unter Heinrich Himmler und vor allem an Reinhard Heydrich überging. In den Spitzen von SD und Sicherheitspolizei war die Form des Radau- und Pöbelantisemitismus von vornherein auf Ablehnung gestoßen. Die "Reichskristallnacht" markierte somit auch das definitive Ende des Pogrom-Antisemitismus in Deutschland. In der Folgezeit änderten sich die Formen antijüdischer Politik, nicht jedoch deren Intensität. Diese steigerte sich noch weiter. Sie vollzog sich nun allerdings nicht mehr in der Form öffentlicher Exzesse, sondern in der kalt-nüchternen bürokratischen Form verstärkter Entrechtung und systematischer Beraubung, wodurch der Auswanderungsdruck noch weiter verschärft wurde. Das Konzept des "wissenschaftlichen" oder "seriösen" Antisemitismus, wie es von SS, SD und Sicherheitspolizei vertreten wurde, setzte sich endgültig durch.

Auch bei der nichtjüdischen Bevölkerung sind die Reaktionen auf den "Novemberpogrom" größtenteils durch Ablehnung gekennzeichnet, die sich jedoch weitgehend auf die Art und Weise des Vorgehens gegen die Juden bezog. Kritisiert wurden daher weniger die antijüdischen Maßnahmen oder die physische Gewalt gegen Menschen an sich, sondern die Ungeregeltheit und die Öffentlichkeit des Tuns sowie die "unnötige Vernichtung von Werten". Dies deckte sich auch mit der Einschätzung der staatlichen Bürokratie, der Justiz aber auch von NS-Führern wie Hermann Göring. Der zweite Mann des Staates beklagte den materiellen Schaden und die auftretenden "versicherungsrechtlichen Probleme" und fügte an, es wäre besser gewesen, "200 Juden zu erschlagen" als "solche Werte zu vernichten". Die Morde und gewalttätigen Exzesse des November 1938 machten deutlich, daß auch die letzten Schranken und Hemmungen gefallen waren. Die von der SS verhafteten jüdischen Männer waren in den Konzentrationslagern einer bis dahin nicht gekannten Brutalität und Grausamkeit ausgesetzt. Innerhalb weniger Wochen gab es unter den in Dachau eingelieferten Juden 185 Tote.

In Form eines Gesetzes hingegen wurde noch im selben Monat die Konfiskation von einer Million Reichsmark als "Sühneleistung" angeordnet und die "Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben" beschlossen, die in kürzester Zeit zur "Arisierung" der großen jüdischen Unternehmen führte. Die Auswanderungszahlen stiegen in der Folgezeit sprunghaft an. Hatten knapp 130.000 Juden Deutschland zwischen 1933 und Ende 1937 verlassen, flüchteten 1938 zwischen 35.000 und 40.000 und 1939 noch einmal 75.000 bis 80.000 Menschen. Der Vertreibung und Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland folgten ab 1939/40 die Gettoisierung und Konzentration und ab 1941 die Deportation der deutschen Juden, ab 1941/42 schließlich die systematische Ermordung der sowjetischen Juden durch die mobilen Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD, wie die der europäischen Juden in den Vernichtungslagern des Ostens.

Ablauf und Befehlswege

Der Initiator des Pogroms war Propagandaminister Josef Goebbels, der sich hiermit innerhalb der Hierarchie des NS-Regimes profilieren und persönlichen Einfluß auf die Judenpolitik des NS-Staates behalten bzw. ausbauen wollte. Bereits im Vorfeld hatte er nach dem Attentat durch Presseanweisungen eine massive antijüdische Kampagne entfesselt, die das Attentat als Ausdruck einer Verschwörung des internationalen Judentums wertete und den deutschen Juden harte Konsequenzen androhte.

Am Abend des 9. Novembers während der Feierlichkeiten zum 15. Jahrestag des Hitlerputsches, wo sich die Spitzen der Partei und der SA im Alten Rathaus in München versammelt hatten, informierte Goebbels in einer wüsten antisemitischen Hetzrede die Anwesenden über den Tod vom Raths und forderte mit Rückendeckung Adolf Hitlers, der die Versammlung bereits verlassen hatte, zu judenfeindlichen Aktionen im ganzen Reich auf. Er verwies dabei auf bereits stattgefundenen Ausschreitungen in Kurhessen und Magdeburg-Anhalt. Die Aktionen liefen in den folgenden Stunden im ganzen Reich relativ einheitlich ab. Die erste Befehlswelle war zwischen 22 und 0 Uhr zu verzeichnen. In dieser Zeit informierten die Gauleiter und Propagandaleiter der NSDAP telefonisch ihre heimischen Dienststellen. Hiermit wurde der gesamte Apparat in Bewegung gesetzt. Die Anweisungen reichten von klaren Befehlen bis, in seltenen Fällen, zu bloßen Appellen. Die einzelnen Stäbe der Gaue gaben, soweit erreichbar, die jeweiligen Anweisungen an die Kreisleiter weiter, diese informierten wiederum die einzelnen Ortsgruppen.

Ein für den Ablauf der Aktionen zentrales Fernschreiben von Goebbels in seiner Funktion als Reichspropagandaleiter erreichte die Gaupropagandaämter um 1.40 Uhr. In ihm war die Rede Goebbels sinngemäß zusammengefaßt. Die Propagandaämter fühlten sich nun bemächtigt, das Vorgehen der Partei und ihrer Gliederungen zu koordinieren.

Auch der Stabschef der SA Viktor Lutze, der ebenfalls, zusammen mit dem Führungspersonal der SA, bei der Rede Goebbels anwesend war, instruierte seine Gruppenführer und forderte sie, auf einen klaren Befehl ebenfalls verzichtend, zu Aktionen auf. Nach der Rückkehr in ihre Quartiere gaben diese zwischen 23 und 24 Uhr telefonisch eindeutige Befehle an ihre heimischen Dienststellen durch. Die Führung von SS, Gestapo und SD waren von den Vorgängen nicht informiert. Die Entwicklung in der Nacht vom 9. auf 10. November traf diese jedoch nicht völlig unvorbereitet. Heydrich als Chef der Sicherheitspolizei und des SD wurde gegen 23.15 Uhr durch die Staatspolizeileitstelle München informiert; er wiederum informierte Himmler. Fünf Minuten vor Mitternacht war jedoch bereits ohne Rücksprache mit der SS-Führung ein erstes kurzes Fernschreiben durch den Leiter des Geheimen Staatspolizeiamtes in Berlin, Heinrich Müller, an die Gestapo-Stellen herausgegangen, in dem die Maßnahmen und das Verhalten der Polizei geregelt wurden. Heydrich präzisierte diese Anweisungen in seinem Fernschreiben von 1.20 Uhr an die Staatspolizeileitstellen. Die Aufgaben der Gestapo sowie der Polizei bestanden in erster Linie im Schutz von Nichtjuden und vor allem nichtjüdischen Eigentums. So sollte die Ausbreitung der Synagogenbrände auf Wohnhäuser verhindert werden. Im Mittelpunkt der antijüdischen Maßnahmen der Sicherheitspolizei in dieser Nacht und in den darauffolgenden Tagen stand eine Verhaftungswelle, die an die Ausweisungsrazzien gegen polnische Juden vierzehn Tage zuvor anknüpfte, aber diese an Radikalität bei Weitem übertraf. Mehr als 25.000 in der Hauptsache vermögende jüdische Männer wurden in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen eingeliefert. Im Laufe des frühen Morgens des 10. Novembers folgten weitere telefonische Anordnungen aus München. So wurden um 3.55 Uhr den Leitstellen der Staatspolizei mitgeteilt, daß die Staatsanwälte vom Reichsjustizministerium angewiesen worden seien, "keine Ermittlungen in Angelegenheit der Judenaktionen vorzunehmen". Um 24 Uhr des 10. Novembers brachte der Rundfunk die Nachricht, daß der Pogrom zu Ende und die Ruhe wiederhergestellt sei.

 


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