Antisemitismus,
Rassismus und Lebensraumdoktrin
"Der Antisemitismus aus rein gefühlsmäßigen Gründen wird seinen
letzten Ausdruck finden in der Form von Pogromen.. Der Antisemitismus
der Vernunft jedoch muß führen zur planmäßigen gesetzlichen Bekämpfung
und Beseitigung der Vorrechte des Juden, die er zum Unterschied der
anderen zwischen uns lebenden Fremden besitzt (Fremdengesetzgebung).
Sein letztes Ziel aber muß unverrückbar die Entfernung der Juden
überhaupt sein."
Adolf Hitler in einem Brief vom 16. September 1919, in: Eberhard
Jäckel, Axel Kuhn (Hg.): Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen 1905-1924,
Stuttgart 1980, S. 88.
"Wenn es dem internationalen Finanzjudentum inner- und außerhalb
Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu
stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und
damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen
Rasse in Europa!"
Adolf Hitler in einer öffentlichen Erklärung vor dem Deutschen
Reichstag in Berlin am 30. Januar 1939, aus: Verhandlungen des
Reichstags, Stenographische Berichte für die Wahlperiode 1939-1942, Bd.
460, S. 16, zitiert nach: Eberhard Jäckel: Hitlers Herrschaft, 3. Aufl.
Stuttgart 1991 (1986), S. 94.
Der "Reichskristallnacht" vom 9. auf den 10. November 1938
sowie dem "Holocaust", der Ermordung der europäischen Juden ab
1941, ging eine jahrhundertealte Tradition des Judenhasses voraus.
Ohne eine Determiniertheit historischer Prozesse sehen zu wollen,
kann und muß der Antisemitismus als eine notwendige Bedingung für diese
in eine Katastrophe mündende Entwicklung angesehen werden.
Geschichtliche Prozesse können zwar qualitative Veränderungen
erfahren, die sich nicht immer linear aus vorangegangenen Entwicklungen
ableiten lassen, sie sind jedoch unweigerlich mit diesen verbunden. Sie
können sich nur ereignen, weil sie als eine von mehreren Möglichkeiten
zuvor angelegt sind. So mußten Antisemitismus und auch Rassismus zuvor
Politikfähigkeit erlangt haben, bevor es möglich wurde, sie zur
Staatsdoktrin zu erheben.
Der Begriff Antisemitismus war in den siebziger Jahren des 19.
Jahrhunderts als ein Synonym für "Judenhaß" und "Judenfeindlichkeit"
aufgekommen und markierte die Entstehung einer bis dahin nicht gekannten
Form der Judenfeindschaft: Der rassische, man könnte auch sagen,
rassistische Antisemitismus. Die Wiege dieses modernen politischen
Antisemitismus stand in Deutschland. Sein erklärtes Ziel bestand in der
Rückgängigmachung der jüdischen Emanzipation und zielte auf die
Wiederausgrenzung einer Minderheit ab, die auf dem Weg hin zur sozialen
Integration und Assimilierung war. Dies unterschied diese Form des
modernen Antisemitismus neben seiner rassistischen Komponente von allen
seinen Vorläufern.
Ältere Formen wie religiöser, sozialer oder wirtschaftlicher
Antisemitismus wurden aber niemals vollständig verdrängt, sondern
vielmehr ergänzt und überlagert. In Reaktion auf die Entstehung der
modernen Industriegesellschaft wurde dieser sich wissenschaftlich
gebende, rassisch-völkische Antisemitismus zu einer nationalistischen
Integrations-, Rechtfertigungs- und Mobilisierungs-Ideologie, die alle
negativ bewerteten modernen Zeiterscheinungen, wie Liberalismus und
Parlamentarismus, die Demokratie, den Kapitalismus, aber auch Marxismus
und Kommunismus, den Juden anlastete.
"Jüdischer Kapitalismus" und "jüdischer Bolschewismus" galten als
Penetrationsinstrumente einer "jüdischen Rasse", die schon weit in den
"deutschen Volkskörper" eingedrungen und ihn in einem Zersetzungsprozeß
geschwächt hatten. Letztere, die sogenannte "jüdische Rasse" galt es
abzuwehren, zu bekämpfen, zu entfernen und in letzter Konsequenz, als
Denkfigur bereits lange vor der Entstehung des Nationalsozialismus
angelegt, zu vernichten.
In und nach dem Ersten Weltkrieg verschärfte sich der Antisemitismus,
da die Juden von den Organisationen und Parteien der völkischen Rechten
für den Krieg, die Niederlage und die Revolution von 1918 verantwortlich
gemacht wurden. Die Deutschen wurden als Opfer einer
jüdisch-kapitalistischen und gleichzeitig marxistisch-bolschewistischen
Weltverschwörung gesehen. Der Antisemitismus verband sich mit der
grundsätzlichen Opposition gegen die Weimarer Demokratie
("Judenrepublik") und gewann damit erheblich an politischem Gewicht.
Ausdrücklich propagierte Hitler bereits in dieser Zeit einen
sogenannten "Antisemitismus der Vernunft", dessen Basis ein aus
pseudowissenschaftlichen Theoremen zusammengesetztes
sozialdarwinistisches Verständnis der weltgeschichtlichen Entwicklung
als "Rassenkampf" bildete. Ausgehend von der Ungleichheit der Rassen und
Völker wurde eine Hierarchie "wertvoller" und "wertloser" Rassen
konstruiert.
In diesem Denksystem wurden alle nicht-arischen Rassen in der
Rassenhierarchie auf eine untere Stufe gestellt, und mit dem Konzept des
rassischen Antisemitismus verknüpft. Die Juden wurden somit zur
"Gegenrasse" stilisiert und dämonisiert. Das "internationale Judentum"
wurde als treibende Kraft hinter allen innen- wie außenpolitischen
Problemen gesehen, da ihm ein Streben nach Weltherrschaft zugeschrieben
wurde, wie es die auch von der NSDAP früh rezipierten "Protokolle der
Weisen von Zion" – eine Fälschung der zaristischen Geheimpolizei – zu
belegen schienen. Der Konflikt zwischen Juden und Ariern wurde von
Hitler in globalen Maßstäben gedeutet, denn nach seiner Auffassung
bedrohte das Judentum nicht nur das deutsche, sondern alle Völker der
Erde, so daß das Ziel die "Entfernung der Juden überhaupt" sein mußte.
In der Vorstellung des Kampfes ums Dasein, in dem Völker erbarmungslos
Krieg um Lebensraum führen, liegt die Verbindung des Antisemitismus mit
der Rassenlehre und dem Lebensraum-Konzept begründet. Geschichte wurde
interpretiert als die Geschichte des Kampfes von Rassen um Lebensraum.
In seinen Reden drohte Hitler mehrfach, das Ergebnis eines von den
Juden verschuldeten neuen Krieges werde nicht die Ausrottung der
europäischen Völker, sondern die des Judentums sein. Zur staatlichen
Macht gelangt, sei das aus der Sicht der NS-Rassenlehre minderwertige
jüdische Untermenschentum einzig in der kommunistischen Sowjetunion,
dessen russischer Staatskern zerstört und dessen Rassenniveau nun durch
Rassenmischung geschwächt sei. Neben dem politisch-rassistischen
Feindbild waren die Sowjetunion und ihre Randstaaten – in einer bewußten
Verknüpfung von Rassismus, Krieg und Lebensraum – das Expansionsziel
einer imperialistischen Lebensraumpolitik schlechthin.
Der Rassismus und der Antisemitismus der NSDAP und des NS-Staates
unterschieden sich von denen des Kaiserreichs durch ihre konsequente
Umsetzung in eine terroristische politische Praxis. Für das Verständnis
des nationalsozialistischen Rassismus muß jedoch sein totaler,
"ganzheitlicher" Charakter betont werden. Dahinter steht die
Vorstellung, daß gesellschaftliche Phänomene auf biologische Ursachen
zurückzuführen seien, und kann als umfassende "Biologisierung des
Gesellschaftlichen" bezeichnet werden. "Asozialität", Kriminalität,
Prostitution, Alkoholismus, psychische Erkrankungen, alle Formen
abweichenden Verhaltens, die letztendlich als "Gemeinschaftsunfähigkeit"
bezeichnet wurden, basierten innerhalb dieses Gedankengebäudes auf
genetischen Ursachen.
Die Stoßrichtung des nationalsozialistischen Rassismus war deshalb
eine doppelte. Er richtete sich nach außen genauso wie nach innen.
Deshalb muß dem Rassen-Antisemitismus notwendigerweise auch die
sogenannte Rassenhygiene an die Seite gestellt werden. Teilte der erste
ganze Völker in "wertlos" und "wertvoll", und damit auch in letzter
Konsequenz in "lebenswert" und "lebensunwert" ein, so tat dies die
rassenhygienische Form des Rassismus für den deutschen Volkskörper. Hier
liegt der Zusammenhang zwischen der NS-Politik gegenüber
"Minderwertigen" innerhalb der deutschen Bevölkerung einerseits, und den
Angehörigen "minderwertiger Rassen bzw. Völker" insbesondere der Juden,
der Sinti und Roma und nach Kriegsbeginn auch der slawischen
Bevölkerungen Ost- und Südosteuropas.
Der aggressive verbale Antisemitismus war nicht Handlungsersatz,
sondern Wegbereiter der Tat. Auch wenn es keinen konkreten Aktionsplan
gab, so lag der Mord an den europäischen Juden doch in der Logik des
rassistischen Antisemitismus. Das dynamische Zusammenspiel von
Parteigliederungen und staatlichen Organen radikalisierte sich, nachdem
der Antisemitismus 1933 zum Regierungsprogramm und zur Staatsdoktrin
geworden war, seit den Boykottmaßnahmen schrittweise - wenn auch in Form
einer zum Teil widersprüchlichen Politik - zu einer immer
weitergehenderen rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen
Ausschließung der Juden bis hin zur "Reichskristallnacht", den
Deportationen und der sogenannten "Endlösung" in Form der Ermordung
aller europäischen Juden.
Literatur:
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eines Vorurteils, München 1995.
Graml, Hermann: "Rassismus und Lebensraum. Völkermord im Zweiten
Weltkrieg", in: Bracher, Karl Dietrich/Funke, Manfred/Jacobsen,
Hans-Adolf (Hg.): Deutschland 1933-1945. Neue Studien zur
nationalsozialistischen Herrschaft, Bonn 2. Aufl. 1993, S. 440-451.
Greive, Hermann: Geschichte des Antisemitismus in Deutschland,
Darmstadt 1983.
Herbert, Ulrich: "Traditionen des Rassismus in Deutschland", in:
Herbert, Ulrich: Arbeit, Volkstum, Weltanschauung. Über fremde und
Deutsche im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1995, S. 11-29.
Herbst, Ludolf: Das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945.
Die Entfesselung der Gewalt: Rassismus und Krieg, Frankfurt/M. 1996.
Schmuhl, Hans Walter: "Rassismus in Deutschland – gestern und
heute", in: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen
Verfolgung in Norddeutschland, H. 1: Rassismus in Deutschland, Bremen
1994, S. 12-21.
Schmuhl, Hans Walter: "Rassismus unter den Bedingungen
charismatischer Herrschaft. Zum Übergang von der Verfolgung zur
Vernichtung gesellschaftlicher Minderheiten im Dritten Reich", in:
Bracher, Karl Dietrich/Funke, Manfred/Jacobsen, Hans-Adolf (Hg.):
Deutschland 1933-1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen
Herrschaft, Bonn 2. Aufl. 1993, S. 182-197.
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