Baustein

Die Nacht als die Synagogen brannten


Texte und Materialien zum 9. November 1938

als Bausteine ausgearbeitet

Hrsg: LpB, 1998

 
Inhalt

 
Inhaltsverzeichnis

 

 

Antisemitismus, Rassismus und Lebensraumdoktrin


"Der Antisemitismus aus rein gefühlsmäßigen Gründen wird seinen letzten Ausdruck finden in der Form von Pogromen.. Der Antisemitismus der Vernunft jedoch muß führen zur planmäßigen gesetzlichen Bekämpfung und Beseitigung der Vorrechte des Juden, die er zum Unterschied der anderen zwischen uns lebenden Fremden besitzt (Fremdengesetzgebung). Sein letztes Ziel aber muß unverrückbar die Entfernung der Juden überhaupt sein."

Adolf Hitler in einem Brief vom 16. September 1919, in: Eberhard Jäckel, Axel Kuhn (Hg.): Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen 1905-1924, Stuttgart 1980, S. 88.

 "Wenn es dem internationalen Finanzjudentum inner- und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa!"

Adolf Hitler in einer öffentlichen Erklärung vor dem Deutschen Reichstag in Berlin am 30. Januar 1939, aus: Verhandlungen des Reichstags, Stenographische Berichte für die Wahlperiode 1939-1942, Bd. 460, S. 16, zitiert nach: Eberhard Jäckel: Hitlers Herrschaft, 3. Aufl. Stuttgart 1991 (1986), S. 94.

Der "Reichskristallnacht" vom 9. auf den 10. November 1938 sowie dem "Holocaust", der Ermordung der europäischen Juden ab 1941, ging eine jahrhundertealte Tradition des Judenhasses voraus.

Ohne eine Determiniertheit historischer Prozesse sehen zu wollen, kann und muß der Antisemitismus als eine notwendige Bedingung für diese in eine Katastrophe mündende Entwicklung angesehen werden.

Geschichtliche Prozesse können zwar qualitative Veränderungen erfahren, die sich nicht immer linear aus vorangegangenen Entwicklungen ableiten lassen, sie sind jedoch unweigerlich mit diesen verbunden. Sie können sich nur ereignen, weil sie als eine von mehreren Möglichkeiten zuvor angelegt sind. So mußten Antisemitismus und auch Rassismus zuvor Politikfähigkeit erlangt haben, bevor es möglich wurde, sie zur Staatsdoktrin zu erheben.

Der Begriff Antisemitismus war in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts als ein Synonym für "Judenhaß" und "Judenfeindlichkeit" aufgekommen und markierte die Entstehung einer bis dahin nicht gekannten Form der Judenfeindschaft: Der rassische, man könnte auch sagen, rassistische Antisemitismus. Die Wiege dieses modernen politischen Antisemitismus stand in Deutschland. Sein erklärtes Ziel bestand in der Rückgängigmachung der jüdischen Emanzipation und zielte auf die Wiederausgrenzung einer Minderheit ab, die auf dem Weg hin zur sozialen Integration und Assimilierung war. Dies unterschied diese Form des modernen Antisemitismus neben seiner rassistischen Komponente von allen seinen Vorläufern.

Ältere Formen wie religiöser, sozialer oder wirtschaftlicher Antisemitismus wurden aber niemals vollständig verdrängt, sondern vielmehr ergänzt und überlagert. In Reaktion auf die Entstehung der modernen Industriegesellschaft wurde dieser sich wissenschaftlich gebende, rassisch-völkische Antisemitismus zu einer nationalistischen Integrations-, Rechtfertigungs- und Mobilisierungs-Ideologie, die alle negativ bewerteten modernen Zeiterscheinungen, wie Liberalismus und Parlamentarismus, die Demokratie, den Kapitalismus, aber auch Marxismus und Kommunismus, den Juden anlastete.

"Jüdischer Kapitalismus" und "jüdischer Bolschewismus" galten als Penetrationsinstrumente einer "jüdischen Rasse", die schon weit in den "deutschen Volkskörper" eingedrungen und ihn in einem Zersetzungsprozeß geschwächt hatten. Letztere, die sogenannte "jüdische Rasse" galt es abzuwehren, zu bekämpfen, zu entfernen und in letzter Konsequenz, als Denkfigur bereits lange vor der Entstehung des Nationalsozialismus angelegt, zu vernichten.

In und nach dem Ersten Weltkrieg verschärfte sich der Antisemitismus, da die Juden von den Organisationen und Parteien der völkischen Rechten für den Krieg, die Niederlage und die Revolution von 1918 verantwortlich gemacht wurden. Die Deutschen wurden als Opfer einer jüdisch-kapitalistischen und gleichzeitig marxistisch-bolschewistischen Weltverschwörung gesehen. Der Antisemitismus verband sich mit der grundsätzlichen Opposition gegen die Weimarer Demokratie ("Judenrepublik") und gewann damit erheblich an politischem Gewicht.

Ausdrücklich propagierte Hitler bereits in dieser Zeit einen sogenannten "Antisemitismus der Vernunft", dessen Basis ein aus pseudowissenschaftlichen Theoremen zusammengesetztes sozialdarwinistisches Verständnis der weltgeschichtlichen Entwicklung als "Rassenkampf" bildete. Ausgehend von der Ungleichheit der Rassen und Völker wurde eine Hierarchie "wertvoller" und "wertloser" Rassen konstruiert.

In diesem Denksystem wurden alle nicht-arischen Rassen in der Rassenhierarchie auf eine untere Stufe gestellt, und mit dem Konzept des rassischen Antisemitismus verknüpft. Die Juden wurden somit zur "Gegenrasse" stilisiert und dämonisiert. Das "internationale Judentum" wurde als treibende Kraft hinter allen innen- wie außenpolitischen Problemen gesehen, da ihm ein Streben nach Weltherrschaft zugeschrieben wurde, wie es die auch von der NSDAP früh rezipierten "Protokolle der Weisen von Zion" – eine Fälschung der zaristischen Geheimpolizei – zu belegen schienen. Der Konflikt zwischen Juden und Ariern wurde von Hitler in globalen Maßstäben gedeutet, denn nach seiner Auffassung bedrohte das Judentum nicht nur das deutsche, sondern alle Völker der Erde, so daß das Ziel die "Entfernung der Juden überhaupt" sein mußte. In der Vorstellung des Kampfes ums Dasein, in dem Völker erbarmungslos Krieg um Lebensraum führen, liegt die Verbindung des Antisemitismus mit der Rassenlehre und dem Lebensraum-Konzept begründet. Geschichte wurde interpretiert als die Geschichte des Kampfes von Rassen um Lebensraum.

In seinen Reden drohte Hitler mehrfach, das Ergebnis eines von den Juden verschuldeten neuen Krieges werde nicht die Ausrottung der europäischen Völker, sondern die des Judentums sein. Zur staatlichen Macht gelangt, sei das aus der Sicht der NS-Rassenlehre minderwertige jüdische Untermenschentum einzig in der kommunistischen Sowjetunion, dessen russischer Staatskern zerstört und dessen Rassenniveau nun durch Rassenmischung geschwächt sei. Neben dem politisch-rassistischen Feindbild waren die Sowjetunion und ihre Randstaaten – in einer bewußten Verknüpfung von Rassismus, Krieg und Lebensraum – das Expansionsziel einer imperialistischen Lebensraumpolitik schlechthin.

Der Rassismus und der Antisemitismus der NSDAP und des NS-Staates unterschieden sich von denen des Kaiserreichs durch ihre konsequente Umsetzung in eine terroristische politische Praxis. Für das Verständnis des nationalsozialistischen Rassismus muß jedoch sein totaler, "ganzheitlicher" Charakter betont werden. Dahinter steht die Vorstellung, daß gesellschaftliche Phänomene auf biologische Ursachen zurückzuführen seien, und kann als umfassende "Biologisierung des Gesellschaftlichen" bezeichnet werden. "Asozialität", Kriminalität, Prostitution, Alkoholismus, psychische Erkrankungen, alle Formen abweichenden Verhaltens, die letztendlich als "Gemeinschaftsunfähigkeit" bezeichnet wurden, basierten innerhalb dieses Gedankengebäudes auf genetischen Ursachen.

Die Stoßrichtung des nationalsozialistischen Rassismus war deshalb eine doppelte. Er richtete sich nach außen genauso wie nach innen. Deshalb muß dem Rassen-Antisemitismus notwendigerweise auch die sogenannte Rassenhygiene an die Seite gestellt werden. Teilte der erste ganze Völker in "wertlos" und "wertvoll", und damit auch in letzter Konsequenz in "lebenswert" und "lebensunwert" ein, so tat dies die rassenhygienische Form des Rassismus für den deutschen Volkskörper. Hier liegt der Zusammenhang zwischen der NS-Politik gegenüber "Minderwertigen" innerhalb der deutschen Bevölkerung einerseits, und den Angehörigen "minderwertiger Rassen bzw. Völker" insbesondere der Juden, der Sinti und Roma und nach Kriegsbeginn auch der slawischen Bevölkerungen Ost- und Südosteuropas.

Der aggressive verbale Antisemitismus war nicht Handlungsersatz, sondern Wegbereiter der Tat. Auch wenn es keinen konkreten Aktionsplan gab, so lag der Mord an den europäischen Juden doch in der Logik des rassistischen Antisemitismus. Das dynamische Zusammenspiel von Parteigliederungen und staatlichen Organen radikalisierte sich, nachdem der Antisemitismus 1933 zum Regierungsprogramm und zur Staatsdoktrin geworden war, seit den Boykottmaßnahmen schrittweise - wenn auch in Form einer zum Teil widersprüchlichen Politik - zu einer immer weitergehenderen rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Ausschließung der Juden bis hin zur "Reichskristallnacht", den Deportationen und der sogenannten "Endlösung" in Form der Ermordung aller europäischen Juden.

Literatur:

Benz, Wolfgang: Antisemitismus in Deutschland. Zur Aktualität eines Vorurteils, München 1995.

Graml, Hermann: "Rassismus und Lebensraum. Völkermord im Zweiten Weltkrieg", in: Bracher, Karl Dietrich/Funke, Manfred/Jacobsen, Hans-Adolf (Hg.): Deutschland 1933-1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Bonn 2. Aufl. 1993, S. 440-451.

Greive, Hermann: Geschichte des Antisemitismus in Deutschland, Darmstadt 1983.

Herbert, Ulrich: "Traditionen des Rassismus in Deutschland", in: Herbert, Ulrich: Arbeit, Volkstum, Weltanschauung. Über fremde und Deutsche im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1995, S. 11-29.

Herbst, Ludolf: Das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Die Entfesselung der Gewalt: Rassismus und Krieg, Frankfurt/M. 1996.

Schmuhl, Hans Walter: "Rassismus in Deutschland – gestern und heute", in: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, H. 1: Rassismus in Deutschland, Bremen 1994, S. 12-21.

Schmuhl, Hans Walter: "Rassismus unter den Bedingungen charismatischer Herrschaft. Zum Übergang von der Verfolgung zur Vernichtung gesellschaftlicher Minderheiten im Dritten Reich", in: Bracher, Karl Dietrich/Funke, Manfred/Jacobsen, Hans-Adolf (Hg.): Deutschland 1933-1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Bonn 2. Aufl. 1993, S. 182-197.

 


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