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NOVEMBERPOGROM - ABLÄUFE
Brandlegung und Zerstörung
Die zentralen Anweisungen, die den Pogrom im November 1938
entfesselten, waren höchst ungenau gehalten. Die konkrete Form der
Aktion wurde auf diese Weise der Initiative des Einzelnen überlassen.
Weder in Goebbels Rede noch in der, die SA-Stabschef Lutze anschließend
vor den in München versammelten SA-Führern hielt, waren präzise
Anweisungen enthalten. Auch das Fernschreiben des Gestapo-Amts, das kurz
vor Mitternacht über den Äther ging, sprach nur ganz allgemein von
"Aktionen gegen Juden". Erst das Telegramm, das Heydrich gegen 1.20 Uhr
an alle Staatspolizeileitstellen und SD- Abschnitte sandte, präzisierte
die Form der "Demonstrationen gegen Juden in der heutigen Nacht". Er
überließ darin zwar den örtlichen Stellen, die "Durchführung der
Demonstrationen" auf einer nächtlichen Besprechung zu vereinbaren, legte
jedoch explizit "Synagogenbrände" nahe, ebenso die Zerstörung von
"Wohnungen und Geschäften von Juden". Schließlich ordnete der Chef des
Sicherheitsdienstes ausdrücklich die anschließende Festnahme vor allem
wohlhabender Juden an sowie die Beschlagnahmung der jeweiligen
Gemeindeakten.
Diese unklaren Vorgaben sind die Ursache dafür, daß der Zeitpunkt, an
dem die Synagogen im Bereich des heutigen Baden-Württemberg in Brand
gesetzt wurden, zum Teil erheblich differiert. Offensichtlich ist aber
auch, daß nahezu alle Adressaten angeordneten "Demonstrationen gegen
Juden", anders als es der Wortlaut der Telegramme nahelegte, nicht
allein als gegen Personen gerichtet verstanden, sondern sie auch und vor
allem als Aktionen gegen deren religiösen Versammlungs- und Betraum, den
steingewordenen Ausdruck ihrer als fremd empfundenen Religion
interpretierten. Mancherorts war die Synagoge schon Jahre vorher, in
Mannheim schon 1933 das Ziel von Gewaltakten gewesen (39).
Dennoch ist nicht zu übersehen, daß die totale Zerstörung der Synagogen
in Form von Brandlegung und/oder Sprengung flächendeckend erst zu dem
Zeitpunkt einsetzte, als dies in den Befehlen auch ausdrücklich erwähnt
wurde. Vorher herrschte blindwütiges Demolieren vor. Die kostbaren
Kultgegenstände, insbesondere die Tora-Rollen mit ihrem silbernen
Schmuck, übten ebenso große Anziehunsgkraft aus wie die profanen
Einrichtungsgegenstände und die eher unscheinbaren Gebetbücher. Das
zeigt, daß die Zerstörungen nicht nur auf materielle Schäden zielten,
die den Versammlungsraum unbenutzbar machen sollten, sondern gezielt den
Kern der Religion selber treffen sollten, die "Sifrei Tora", die
"Heiligen Bücher", das sind die fünf Bücher Mose.
Auf den meist weit entfernt liegenden jüdischen Friedhöfen kam es
dagegen nur in einigen Fällen zu Zerstörungen, so etwa in Hechingen, wo
zudem die dortige Leichenhalle vollständig demoliert wurde. (Vgl. Die
Hechinger Juden, S.60/61)
In der Synagogen warfen die Eindringlinge die gesamte
Innenausstattung wild durcheinander oder auf einem Haufen zusammen und
zündeten sie nach dem Vorbild der Bücherverbrennung von 1933 in oder vor
der Synagoge, in Mosbach auf dem Marktplatz, an (26). Für das
nächtliche Zerstörungswerk hatten sich die Täter, die später immer
beteuerten, nur auf Befehl gehandelt zu haben, gut ausgerüstet: sie
trugen Äxte und Stangen mit sich. An manchen Orten besorgten sie sich
zuvor den Synagogenschlüssel beim Bürgermeister (55), meist aber
öffneten sie die Synagogentüren gewaltsam. In Ulm nutzte man dafür einen
riesigen Balken (45). Mit blinder Gewalt wurden die Bänke aus
ihren Halterungen gerissen, Kronleuchter heruntergerissen und
zerschlagen. Im Gegensatz zu den vielen gestohlenen
Wohnungseinrichtungen und den Auslagen der Geschäfte brachten aber nur
in ganz wenigen Fällen die Beteiligten die jüdischen Kultgegenstände an
sich (43). In Tübingen wurden die Kultgegenstände in den nahen
Neckar geworfen (47), in Baden-Baden beschlagnahmte sie die
Gestapo. In Mannheim nahmen einige der Beteiligten das Holz der
zerstörten Bänken als Brennholz an sich (39).
Es waren vor allem die größeren Städte und Großstädte, mit ihrem
differenzierten Organisationsapparat der Partei, in denen die
unterschiedlichen Befehlsstränge zu erkennbar unterschiedlichen Aktionen
von unterschiedlichen Gruppen führten. Zum einen wurden die Synagogen
demoliert und geplündert, zum anderen die Gebäude angesteckt oder mit
Hilfe von Sprengsätzen (35) dauerhaft zerstört. Begannen die
ersten ihr Zerstörungswerk noch vor Mitternacht, in Stuttgart z.B. schon
gegen 22.30 Uhr (40), so wurden die Befehle aus München in Ulm
oder Mannheim erst gegen 4 Uhr früh in die Tat umgesetzt (39,45).
Oft wurde demonstrativ vor den Augen der unter Demütigungen und
Quälereien herbeigeführten Juden gewütet (35,43). Erst im
Anschluß daran nahmen Gestapo oder SS-Angehörige die, meist systematisch
durchgeführten, Verhaftungen vor.
Häufig fanden die Brandstifter die Synagogen schon aufgebrochen und
geplündert vor wie in Tübingen, wo sich acht SA- und SS-Männer in
Uniform schon vor den Brandstiftern Zugang zur Synagoge verschafft
hatten (47). Andernorts waren wie in Ulm Hitlerjungen oder in
Mannheim Parteifunktionäre in Zivil beteiligt. In Stuttgart legte der
Branddirektor, in Zivil und ausgestattet mit einem Eimer Waschbenzin,
selbst den Brand; in Cannstatt war es der Leiter der dortigen Feuerwache
(40). In der Regel aber wurden untergeordnete Parteifunktionäre
vom Kreisleiter oder Propagandaleiter damit beauftragt. Diese
beaufsichtigten dann auch das Zerstörungswerk. Der Tübinger Kreisleiter
Rauschnabel schickte die Brandstifter ein zweites Mal los, weil ihm der
Brand nicht kräftig genug schien (42).
Verhalten der Feuerwehr
Das Verhalten der Feuerwehr war höchst unterschiedlich und insgesamt
wohl als Folge der unklaren Anweisungen, von großer Unentschiedenheit
geprägt.
In der Regel wurde sie erst so spät gerufen, daß ihr Einsatz für die
Synagogen erfolglos war. In Ulm soll sie leere Schläuche verwendet haben
(45). Oft wurden die Feuerwehrmänner auch am Löschen gehindert
oder sie rückte nur aus, um ein Übergreifen der Flammen auf benachbarte
Häuser zu verhindern (41) wie in Baisingen und Rexingen. In
Göppingen war es der Landrat, der "auf Anweisung aus Stuttgart" das
Löschen des Brandes persönlich verhinderte (48). Meist stand die
Feuerwehr tatenlos neben dem Brand und achtete einzig und allein darauf,
daß die Flammen nicht auf die benachbarten Häuser übergriffen. In Ulm
alarmierte Polizeidirektor Dreher deshalb einen weiteren Löschzug (6).
In Konstanz half die Feuerwehr nach, damit sich das Feuer überhaupt
entfaltete. Schließlich gab es auch Orte wie Stuttgart und Bad
Cannstatt, an denen die Feuerwehr selbst den Brand legte (40).
Eine seltene Ausnahme bildete die Buttenhauser Dorffeuerwehr, die den
Brand in der Synagoge löschte und wertvolle Kultgegenstände wie auch den
Leichenwagen der jüdischen Gemeinde in Sicherheit brachte (52).
Ein erneuter Versuch auswärtiger SA-Leute am folgenden Vormittag war
schließlich erfolgreich, da der Bürgermeister auf dem Rathaus
festgehalten und die Feuerwehr am Löschen gehindert wurde (52).
Nicht alle Synagogen wurden angesteckt. 14 der 151 jüdischen
Synagogen im Bereich des heutigen Baden-Württemberg, blieben
unangetastet. Sie standen wie in Baisingen, Hechingen, Affaltrach,
Haigerloch und Rexingen in enger Nachbarschaft zu Häusern von
Nichtjuden, und wurden deshalb "nur" demoliert und geschändet. In
einigen wenigen Orten kam es überhaupt erst im Lauf des folgenden Tages
zu Gewalttätigkeiten. So in dem kleinen Gäuort Baisingen. Dort fielen
erst am Abend des 10. November 70 bis 80 auswärtige SA-Männer ein,
demolierten die Synagoge und zerstörten die Wohnungen der wohlhabenderen
Juden. Damit sie die Häuser nicht mit denen von Christen verwechselten,
hatten sie einen Plan erhalten, auf dem die entsprechenden Häuser
markiert waren (5). Auch in Esslingen war es in der Nacht vom 9.
auf den 10. November zu keinerlei Gewaltakten gekommen. Um den
Anweisungen aus Stuttgart genüge zu tun, ließ dort aber der Kreisleiter
am folgenden Tag auf dem Marktplatz eine Kundgebung abhalten, die zu
Gewalttaten aufstachelte (37). Prompt stürmte daraufhin eine
aufgebrachte Menge das Israelitische Waisenhaus und die Synagoge. Ein
Anzünden der Synagoge lehnte der Kreisleiter aber ab (54).
Plünderungen und Verwüstungen von Geschäften und Privatwohnungen
Die entfesselte Gewalt richtete sich gegen Menschen und ihre
Kultstätten, sie zielte aber auch auf deren privaten Besitz. So wurden
in den meisten Orten Wohnungen und Geschäfte von Juden ebenfalls
demoliert und ausgeraubt. Wohnungseinrichtungen wurden zusammen-,
Schaufenster in Scherben geschlagen, was der "Kristallnacht" ihren
verharmlosenden Namen einbrachte.
Wo sich wie in Tübingen oder Hechingen im November 1938 schon kein
Geschäft mehr im Besitz eines Juden befand, blieben die Geschäfte und
Privatwohnungen jedoch in der Regel unangetastet.
Entgegen den ausdrücklichen Anweisungen, kam es an vielen Orten beim
Demolieren der Geschäfte und Wohnungen zu Plünderungen. In Mannheim
waren die Mitglieder der Kreisleitung daran beteiligt, aber auch
Einwohner waren dabei und versorgten sich skrupellos mit
Einrichtungsgegenstände, von Teppichen, über Radioapparate bis zum
Tafelsilber (37). Selbst die Betten und Leibwäsche der
Überfallenen trugen sie nach Hause (8). Dabei unterschied die
enthemmte Menge im Einzelfall nicht mehr zwischen "Arier" und
"Nichtarier", wie das Vorgehen gegen den Oberlenninger Pfarrer von Jan
zeigt, der, bewußtlos geschlagen, noch um den geringen Inhalt seines
Geldbeutels beraubt wurde (50). Was die Einbrecher nicht brauchen
konnten, schlugen sie kurz und klein (41,35,37,38). "Vandalen
konnten nicht ärger gehaust haben", bemerkte die Gailinger Rabbinerfrau
Jenny Bohrer (35). In Stuttgart beteiligte sich an den
Plünderungen sogar der Sicherheitsdienst der SS. Er beauftragte ein
Transportunternehmen, die in der Synagoge "sichergestellten" Bücher,
Akten und Büromöbel sowie eine Schreibmaschine in seine Dienststelle zu
transportieren (51).
Verhalten der nichtjüdischen Bevölkerung
Das Verhalten der Nichtjuden war sehr unterschiedlich. Es waren immer
nur Einzelne, die ihren bedrängten Nachbarn zu Hilfe kamen (37,41,47)
und sich den Gewalttätern entgegenstellten. Nachhaltigen Protest gab es
aber nirgends. Der in jener Nacht diensthabende Göppinger Amtsrichter,
Dr. Gebhard Müller reagierte mit den noch zur Verfügung stehenden
rechtsstaatlichen Mitteln. Er verfaßte einen dienstlichen Bericht an die
Staatsanwaltschaft in Stuttgart und erstattete - freilich ergebnislos -
Anzeige wegen Landfriedensbruch und Brandstiftung (48).
In kirchlichen Kreisen rief der Pogrom vielfach die Sorge hervor,
"als nächster dran zu sein". Falls Mitleid oder Sorge um die Bedrohten
und Gequälten vorhanden war, so wurden diese schon aus Vorsicht nicht
öffentlich (43). Eine mutige Ausnahme bildete der Oberlenninger
Pfarrer Julius von Jan, der im Rahmen einer Bußtagspredigt offen seine
Kritik an den Gewalttaten formulierte, was er mit brutalen Mißhandlungen
und einer Ausweisung aus Württemberg büßen mußte (49/50). In
Stuttgart wurden Passanten in "Schutzhaft" genommen, die die Ereignisse
auf der Straße mit Abscheu kommentierten (36).
Massenhafte, offene Zustimmung fanden die Zerstörungen und Quälereien
nirgends. Vor allem in kleineren Orten stand die Bevölkerung der Aktion
durchweg ablehnend und verständnislos gegenüber. Das von der Propaganda
beschworene Feindbild hatte nichts gemein mit dem jüdischen Nachbarn,
mit dem man eher Mitleid hatte. Hier kam es, wenn auch vereinzelt vor,
daß nichtjüdische Bürger zugunsten ihrer jüdischen Nachbarn eingriffen
und dafür mißhandelt wurden. Im badischen Schmieheim patrouillierten die
Einwohner des Ortes in der Nacht nach dem Brand, um weitere Übergriffe
zu verhindern.
Auch in den größeren Städten schwankte die vorherrschende Reaktion
zwischen Gleichgültigkeit, Angst und Ablehnung aus unterschiedlichen
Beweggründen. Der amerikanische Generalkonsul in Stuttgart schätzte, daß
80 Prozent der nichtjüdischen Bevölkerung die gewaltsamen Aktionen gegen
Juden ablehnten (50).
Allerdings bestand auch eine Tendenz, die Gewalttaten als
´Denkzettel´, der den Juden erteilt wurde, zu billigen, während die in
sinnloser Zerstörungswut vernichteten materiellen Werte vor allem im
engen dörflichen Zusammenhang beklagt wurden. Vereinzelt wird auch
überliefert, daß Zuschauer sich aktiv an den Quälereien und Demütigungen
der vorgeführten Juden beteiligten. Passanten beschimpften, bespukten
und schlugen sie (50). Im eher anonymen Zusammenhang der größeren
Städte und Großstädte gab es nicht wenige, die sich bei Plünderungen
hemmungslos bereicherten.
GEWALT GEGEN PERSONEN
Der Novemberpogrom wird bis heute häufig als "Reichskristallnacht"
gesehen, bei der Sachwerte zerstört wurden, während viel weniger bekannt
und bewußt ist, daß dabei auch eine Welle brutaler Gewalt über die
jüdischen Deutschen hereinbrach und tausende verhaftet wurden. Zum
ersten Mal waren sie in breitem Maße in ihrer körperlichen
Unversehrtheit und persönlichen Freiheit in Frage gestellt.
Ebenso wenig wie die Brandstiftungen und Demolierungen eine spontane
Aktion der über das Attentat erzürnten Bevölkerung waren, geschahen die
Verhaftungen isoliert von einander und ohne höheren Befehl. Schon gar
nicht handelte es sich dabei um ein Eingreifen der Polizei, durch das
gefährdete jüdische Personen vor den Übergriffen des Mobs geschützt
werden sollten, was der von den Nazis benutzte Begriff "Schutzhaft"
nahelegen möchte. Die Verhaftung einer großen Zahl jüdischer Personen
ohne Haftbefehl und ohne rechtliche Grundlagen war vielmehr
willkürlicher Freiheitsentzug und Terrormaßnahme, zugleich Bestandteil
der zentral gesteuerten Aktion.
Durch die getrennten Befehlswege ergab sich, daß zunächst
hauptsächlich Partei- und SA-Einheiten, meist in Zivil, an den
Ausschreitungen beteiligt waren. Diese waren durch Befehle der in
München versammelten Parteiführer in Gang gesetzt worden, die bei den
örtlichen Stellen unterschiedlich ankamen, je nachdem, wie Goebbels
Münchner Rede verstanden worden war. Entsprechend kam es bereits in
dieser frühen Phase bei Hausdurchsuchungen, aber auch auf der Straße zu
brutalen Übergriffen auf jüdische Bürger, wobei es sich zunächst noch um
eher individuelle Gewaltexzesse handelte.
In Mannheim und in Stuttgart beteiligte sich an den Rollkommandos,
die die Läden und Wohnungen verwüsteten, auch HJ in Uniform.(39)
Die Anweisungen an die Polizei besagten, die Demonstrationen "nicht zu
verhindern, sondern nur die Einhaltung der Richtlinien zu überwachen".
De facto bedeutete dies, daß Polizisten in zahlreichen Fällen untätig
daneben standen oder wegschauten, während Juden Mißhandlungen ausgesetzt
waren.(42)
Offiziell von Festnahmen ist erst in den Fernschreiben von Müller und
Heydrich die Rede, durch die die Stapo die Führung der Aktion zu
übernehmen versuchte.(2,3). Dabei wurde den Verhaftungen jedoch
keine zeitliche Priorität vor den anderen Aktionen eingeräumt. Die
Gestapo, die für eine so umfassende Aktion nicht über ausreichend
Personal verfügte, zog die SA und das NS-Kraftfahrkorps (NSKK) zur
Unterstützung heran. Auch die SS, der von Himmler die Teilnahme am
Pogrom untersagt worden war, fungierte bei der Verhaftungsaktion nach
den Befehlen Heydrichs und der Weisung Himmlers als Hilfstruppe der
Gestapo.
Nach Heydrichs Befehl sollte sich die Zahl der Verhafteten nach den
vorhandenen Hafträumen richten, Müller nennt die Zahl 20 000 bis 30 000.
In jedem Fall ging man also von einer sehr großen Zahl von Verhafteten
aus.
Der von den Verhaftungen betroffene Personenkreis war im voraus
festgelegt: Nach Heydrichs Befehl waren "gesunde männliche Juden nicht
zu hohen Alters" festzunehmen, besonders "wohlhabende", womit der
finanzielle Hintergrund der Aktion enthüllt wird.(3) Gezielt
wurden prominente Gemeindemitglieder verhaftet und damit auch die
jüdische Selbstorganisation und möglicher Widerstand geschwächt.
In Hechingen, Heidelberg und anderen Orten wurde nach einer
"Judenkartei" vorgegangen, die auf den neuesten Stand war. Nach
leitenden Persönlichkeiten wurde sowohl in deren Wohnung, als auch in
ihren Büros gefahndet. Entgegen der Weisung Heydrichs nahm man
nicht immer Rücksicht auf ausländische Staatsangehörige. In großen
Städten wie Stuttgart waren schließlich fast alle männlichen Juden
zwischen 18 bzw. 16 und 65 Jahren verhaftet, ja sogar Kranke und
Genesende sowie Jugendliche unter 18 Jahren. In ländlichen Gebieten war
man meist weniger gründlich. Ganz überwiegend wurden Männer verhaftet,
aber z.B. in Göppingen und Konstanz auch jüdische Frauen, vor allem
politisch aktive. Verhaftet wurden auch getaufte Juden, z.B. Kurt Model
aus Hechingen und Juden in sogenannten "privilegierten Mischehen", z.B.
David Eis aus Ulm. (38,13,19)
Bei der Zusammenstellung von Namenslisten und der Identifizierung der
zu Verhaftenden war man auf die Hilfe von Einheimischen angewiesen.(5,41)
In Buttenhausen konnte der Bürgermeister dabei die Zahl der zu
Verhaftenden herunterhandeln.(50)
Genausowenig wie die Brandlegung bzw. Sprengung der Synagogen,
folgten auch die Verhaftungen keinem einheitlichen Plan. (42) Die
meisten Opfer wurden aus ihren Wohnungen verschleppt, andere wurden aus
Büros und Geschäften geholt. In Baden-Baden wurden auch jüdische
Kurgäste von der Straße weg verhaftet.
Heydrichs Befehl untersagt ausdrücklich die Mißhandlung verhafteter
Juden.(3) Zeitzeugen und Gerichtsprotokolle berichten jedoch von
zahllosen Gewaltakten.(35,37,38) Nach Möglichkeit versuchte man
zu unterbinden, daß Hilfe herbeigerufen wurde.(38,35) Je nachdem,
wer die Verhaftungen durchführte, unterschied sich auch die Behandlung:
Neben einheimischen SA-Leuten wurden auch Einheiten aus der Umgebung
eingesetzt, die sich oft durch besondere Brutalität gegenüber den Juden
auszeichneten, die ihnen ja nicht persönlich bekannt waren.(37)
Die lokale Polizei dagegen war meist zurückhaltender und erlaubte zum
Beispiel den Opfern, sich anzukleiden und von ihren Familien Abschied zu
nehmen.
Wiederholt wurden die Verhafteten und ihre Familien von SA-Leuten mit
gezogener Waffe bedroht und eingeschüchtert.(51,52) Es kam zu
mehreren Todesopfern, sei es durch Fahrlässigkeit, sei es durch gezielte
Gewaltakte. Nach Heydrichs Vollzugsbericht vom 11. November 1938 gab es
reichsweit 36 Tote und 36 Schwerverletzte, nach späteren Darstellungen
sogar 91 Todesopfer.
In vielen kleineren Orten wurden die Verschleppten zuerst einzeln
oder in Marschkolonne durch die Stadt getrieben und an einem Platz in
der Stadt zusammengeführt, meist vor die bereits brennende Synagoge
(35). In Ulm veranstaltete man mit den Juden auf dem Platz vor der
Synagoge, eine Art Spießrutenlaufen.(27) Auch ohne direkte
Drohungen, man werde sie in die Flammen der Synagoge oder der davor
entzündeten Scheiterhaufen werfen, mußten die brennenden Synagogen
Erinnerungen an historische Scheiterhaufen und mittelalterliche Pogrome
wecken.(35)
Ziel besonders übler Übergriffe waren die Rabbiner, durch deren
Verspottung und Mißhandlung die gesamte Glaubensgemeinschaft gedemütigt
und demoralisiert werden sollte.(24,44,45) Haß und
Erfindungsreichtum der Täter zeigte sich nicht nur in grober
Gewaltanwendung, sondern auch darin, wie die religiösen Gefühle
jüdischer Menschen durch blasphemische "Spiele" verletzt wurden, indem
man sie zu Handlungen zwang, die für einen gläubigen Juden ein Sakrileg
darstellten.(24)
Haftstationen und Aufenthalt im Konzentrationslager
Die zusammengetriebenen Juden wurden meist im nächsten Amtsgefängnis
untergebracht. Vielfach gab es Zwischenstationen, wobei
Polizeireviere oder SD-Dienststellen, aber auch Rathäuser und andere
öffentliche Lokale und beschlagnahmte Hotels als Sammelstellen sowie zur
erkennungsdienstlichen Behandlung dienten.(40,11) In großen
Städten wie Mannheim wurden Juden einzeln von SA-Leuten im PKW abgeholt
und direkt zum Landesgefängnis geschafft.(39) In Einzelfällen
wird von ärztlicher Behandlung berichtet, die Gefangene erhielten.(36)
In den meisten Orten wurden vor dem Abtransport ins KZ am Morgen des 10.
November eine Reihe von Verhafteten wegen ihres Alters wieder
freigelassen. Die Behandlung während der Sammeltransporte mit Autobussen
und Lastwagen war unterschiedlich, je nach Begleitpersonal. Der
überwiegende Teil der verhafteten württembergischen und badischen Juden
wurde ins KZ Dachau transportiert.(13,36,38) Die Stuttgarter
Juden dagegen kamen ins KZ Welzheim.(34) Im Verlauf der Pogrome
im November 1938 wurden im Deutschen Reich mehr als 25 000 jüdische
Personen in Haft genommen, in Baden und Württemberg etwa 2 000. Schon
die Ankunft im KZ Dachau war für viele Häftlinge ein traumatisches
Erlebnis. Zeitzeugen berichten über die mangelnde Verpflegung und das
Zusammenpferchen in den Baracken. Ein oft wiederkehrender
Bestandteil der Berichte sind auch die stundenlangen Appelle in
unzureichender Kleidung.(36) Verschiedene Dachau-Häftlinge
kehrten mit Erfrierungen an Händen und Füßen aus dem KZ zurück. Die
physischen Mißhandlungen gingen einher mit psychischen, die die
Häftlinge zusätzlich demoralisierten.(38)
Beschränkter Postverkehr mit den Verwandten war gestattet, der
natürlich der Zensur unterlag. Immerhin erhielten die Familien so ein
Lebenszeichen, erfuhren den Aufenthaltsort.(36,13) Um die
Familien zu ächten und weitere Ausschreitungen zu provozieren brachte
die NS-Hetzzeitschrift "Flammen-zeichen" im Dezember 1938 eine
Doppelseite mit Fotos, Namen und Anschrift der Verhafteten aus
Stuttgart, die sich zu der Zeit im KZ Welzheim befanden.(34)
Viele Ehefrauen und Angehörige richteten Freilassungsgesuche an die
Gestapo oder ließen solche von jüdischen "Rechtskonsulenten" aufsetzen.(8)
Dabei wurde vor allem auf drei Punkte hingewiesen: 1. Die Teilnahme des
Verhafteten als Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg und ggf. seine
Auszeichnungen. (8, 10,36) 2. Die für die Arisierung seines
Betriebes notwendige Anwesenheit des Verhafteten. 3. Die unmittelbar
bevorstehende oder zumindest vorbereitete Auswanderung.(11)
Die von der SS verhafteten jüdischen Männer waren in den
Konzentrationslagern einer bis dahin nicht gekannten Brutalität und
Grausamkeit ausgesetzt. Innerhalb weniger Wochen gab es unter den in
Dachau eingelieferten Juden 185 Tote. Mindestens 40 der Dachau-Häftlinge
aus Baden und Württemberg fanden den Tod. Zwei der Todesopfer stammten
aus Gailingen: Der Rabbiner Dr. Mordechai Bohrer und Josef Weil, der auf
dem Heimweg an den Folgen der Haft starb.(36,38) Mehrere der
Häftlinge, z.B. Männer aus Lichtenau bei Kehl und Karlsruhe starben
durch ein Erschießungskommando. Freilich hatte der Aufenthalt im KZ noch
nicht die Vernichtung der Opfer zum Ziel, sondern diente der
Einschüchterung und sollte zur Auswanderung antreiben. Trotzdem darf die
Wirkung auf das Bewußtsein der Opfer nicht unterschätzt werden, deren
bürgerliche Lebensform damit von einem Moment zum anderen vernichtet
wurde.
Die Freilassung der im Rahmen des Novemberpogroms Verhafteten geschah
in mehreren Wellen: Zunächst wurden Ende November alle Frontsoldaten
entlassen. (8,10) Dann folgten zum 12. Dezember alle über 50
Jahre alten Schutzhäftlinge. Bei der Entlassung hatten die
Häftlinge ein Revers zu unterschreiben, in dem sie sich unter Androhung
von erneuter KZ-Haft verpflichteten, über alles im Lager Erlebte
Stillschweigen zu bewahren. Nach der Heimkehr in ihren Wohnort
unterlagen die ehemaligen Häftlinge der polizeilichen Meldepflicht.
Dabei ging es nicht nur um eine Kontrolle des Aufenthaltsortes, sondern
auch der Bemühungen zur Auswanderung.(11)
ENTWICKLUNGEN BIS 1945
Reaktionen und weiteres Schicksal der Häftlinge und ihrer Familien
Die Vorgänge in der Pogromnacht und die Verhaftungen bewirkten einen
schweren psychischen Schock. Die Familien wurden Zeuge von brutalen
Gewaltausbrüchen, erlebten wie verehrte und bewunderte
Autoritätspersonen erniedrigt wurden, mußten hilflos zusehen, wie
geliebte Menschen mißhandelt und verschleppt wurden.(35) Schwer
zu ertragen war die anschließende Ungewißheit.(36) Kinder wurden
aus der Schule wieder nach Hause geschickt bzw. eingesperrt und im
Unklaren über das Schicksal ihrer Familie gelassen.(35)
Die wirtschaftlichen Auswirkungen waren verheerend: Die Plünderungen
und Beschlagnahmungen und die Verhaftung des erwerbstätigen
Familienvorstands bedeuteten für viele Familien den Verlust der
Existenzgrundlage und den wirtschaftlichen Ruin.(8) Hinzu kamen
die Kosten der Reparaturarbeiten und die sogenannten Sühneleistungen.(18)
Nach der Verordnung "zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen
Wirtschaftsleben" war es Juden ab dem 1. Januar 1939 untersagt, ein
Geschäft oder einen Handwerksbetrieb zu führen, an Märkten oder Messen
teilzunehmen oder Mitglied einer Genossenschaft zu sein. Beim Verkauf
ihres Geschäfts mußten sich jüdische Geschäftsleute die Bedingungen
diktieren lassen.(51) Immer mehr Familien waren gezwungen, von
den Ersparnissen oder vom Verkauf der letzten Wertgegenstände zu leben.(18,22)
Jüdische Wohltätigkeits- und Hilfsorganisationen, wie z.B. die Jüdische
Winterhilfe waren meist nicht imstande, ihre Hilfe auszudehnen, weil
ihre Büros geschlossen und ihre Konten gesperrt waren. So blieb
nur der Appell an das soziale Verantwortungsbewußtsein der
Glaubensbrüder untereinander und in seltenen Fällen die Hilfe
christlicher Nachbarn.
Eine langfristige Sicherung der Existenz war nur noch durch die
Auswanderung vorstellbar(22). Nach den Pogromen setzte eine
heftige Auswanderungswelle ein:
Hatten knapp 130.000 Juden Deutschland zwischen 1933 und Ende 1937
verlassen, flüchteten 1938 zwischen 35.000 und 40.000 und 1939 noch
einmal 75.000 bis 80.000 Menschen. Viele ehemalige
Häftlinge litten wie Rabbiner Julius Cohn aus Ulm auch in der Emigration
noch unter den Folgen der Mißhandlungen und erholten sich nicht mehr.
Die Emigration wurde immer schwieriger. Bürokratische Barrieren,
Aufnahmequoten und erhebliche Kosten bewirkten, daß in vielen Fällen die
Familien auseinander gerissen wurden, weil nicht alle Familienmitglieder
gleichzeitig ausreisen konnten. In einigen Familien bemühte man sich
nach dem Schock der Pogromnacht, wenigstens die Kinder im Ausland in
Sicherheit zu bringen. Oft waren die Mittel durch die
Reichsfluchtsteuer für die auswandernden Kinder erschöpft, so daß die
Eltern im Land bleiben mußten und die Familien zerrissen wurden.
Die absolute Ausweglosigkeit, mit der die konfrontiert waren, denen der
Weg ins Ausland versperrt war, führte manche in den Freitod.(22,46)
Sühneleistungen
Ziel des brutalen Wütens gegen die Synagogen war, die jüdische
Bevölkerung ihrer geistigen und kulturellen Zentren zu berauben.
Folgerichtig wurden auch Synagogen, die wie in Ulm oder Konstanz nicht
völlig zerstört waren, später gesprengt und abgerissen.(27) Die
Kosten für den Abbruch der Synagogen mußten die israelitischen Gemeinden
selbst tragen.(9,14) Ein Erlaß vom 15. November 1938 bestimmte,
daß ein Wiederaufbau zerstörter oder ausgebrannter Synagogen bis auf
weiteres nicht zuzulassen sei, womit klar war, daß eine Weiterexistenz
der jüdischen Gemeinden nicht vorgesehen war.(7)
In Laupheim war schon vor der Pogromnacht, um Heizkosten zu sparen im
Rabbinatsgebäude eine Notsynagoge eingerichtet worden. In anderen Orten
entstanden nach dem Pogrom provisorische Beträume oder man traf sich
privat. In Mannheim wurde die Klaus-Synagoge soweit hergerichtet, daß
dort wieder Gottesdienste stattfinden konnten. Die äußere Gefährdung
führte auch eher säkulare Juden wieder zurück zum Glauben, oder
zumindest zu der Synagogengemeinschaft.
Die leergeräumten Synagogengrundstücke weckten ebenso wie die frei
gewordenen Immobilien jüdischer Besitzer die Begehrlichkeit der
Stadtverwaltungen, der Partei und des Reiches. Durch ein Gesetz mußte
ausdrücklich den Gemeinden verboten werden, Schenkungen von jüdischer
Seite entgegenzunehmen. (12)
Bereits am 14. November 1938 wurde eine Verordnung zur
"Wiederherstellung des Straßenbildes bei jüdischen Gewerbebetrieben"
erlassen und im Reichsgesetzblatt verkündet, wonach die Inhaber
demolierter Geschäfte selbst für die Instandsetzung aufzukommen hatten.
Versicherungsansprüche von Juden wurden zugunsten des Reiches
konfisziert.
Durch die an Zynismus kaum zu überbietende Verordnung "über eine
Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehörigkeit" wurde den
deutschen Juden eine Sühneleistung von einer Milliarde Mark auferlegt.(30)
Diese Verordnung enthüllt den wirtschaftlichen Hintergrund der Aktion,
dar darin bestand, den Ausschluß der Juden aus der deutschen Wirtschaft
massiv voranzutreiben und die Finanzen des Reiches zu sanieren.
Rechtliche Folgen der Übergriffe bis 1945 und Eingreifen des Obersten
Parteigerichts
In einzelnen Fällen wurde von Nichtjuden wegen Landfriedensbruch und
Brandstiftung Anzeige erstattet, so von dem Göppinger Amtsrichter und
späteren Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württembergs, Gebhard
Müller.(46) Solche Verfahren wurden in der Regel
niedergeschlagen; die Anzeige-Erstatter mußten mit Unannehmlichkeiten
rechnen. Im Februar 1939 befaßte sich das Oberste Parteigericht der
NSDAP mit den Vorgängen in der Pogromnacht, allerdings weniger um die
Ausschreitungen zu ahnden, als um Morde, Plünderungen und
Vergewaltigungen, die Parteigenossen verübt hatten, der öffentlichen
Gerichtsbarkeit zu entziehen. Dabei wurden Diebstähle kaum verfolgt,
obschon die Gestapo mehrere hundert Plünderer verhaftet hatte.
Sittlichkeitsverbrechen wurden schärfer geahndet, weil sie als
"Rassenschande" betrachtet wurden. Die Mordfälle wurden von November
1938 bis Februar 1939 vom Obersten Parteigericht untersucht, die Täter
jedoch fast alle freigelassen, außer wenn sie ohne Befehl oder
befehlswidrig getötet hatten. In diesem Fall wurde ihnen vor allem
Disziplinlosigkeit vorgeworfen. In den Begründungen befaßte man sich mit
dem Problem der Gesamtverantwortung und der verschleierten Befehlsgebung
durch Goebbels, die als unzeitgemäß kritisiert wurde.(19)
UMGANG MIT DER VERGANGENHEIT
Beim Umgang mit der NS-Vergangenheit zeichnen sich verschiedene
Phasen der Erinnerungsarbeit ab, die sich neben anderem auch am Umgang
mit den zerstörten Synagogen ablesen lassen. Die unterschiedliche
Behandlung dieser Gedenkorte markiert die unterschiedlichen Stadien
eines Prozesses, die durchlaufen wurden und noch werden, um die
Erfahrung des Nationalsozialismus im kollektiven Gedächtnis der
Gesellschaft zu verankern.
Dabei bilden Denkmale und Erinnerungstafeln nur einen Parameter der
Entwicklung. Sie wird ebenso bestimmt von der öffentlichen Diskussion
über das Thema und von der juristischen, wissenschaftlichen,
künstlerischen und medialen Beschäftigung mit den Verbrechen und von der
Etablierung glaubwürdiger Gedenkrituale.
Unmittelbar nach Kriegsende waren Täter wie Zuschauer und Nutznießer
mit den Folgen der Niederlage, der restlosen Zerstörung ihrer Hoffnungen
und dem Wiederaufbau beschäftigt. Darüber ließen sich Scham und
Schuldgefühle vergessen und verdrängen. Als Hannah Arendt 1949 erstmals
nach ihrer Flucht aus Deutschland wieder nach Deutschland kam,
beobachtete sie eine "tief verwurzelte, hartnäckige und gelegentlich
brutale Weigerung, sich dem tatsächlichen Geschehen zu stellen und sich
damit abzufinden." (Hannah Arendt, Besuch in Deutschland, Aufl. 1996,
S.32) So waren es oft die überlebenden Juden selbst, die sich als erste
um ein Gedenken an die Ermordeten und an die zerstörten Stätten der
ausgerotteten jüdischen Gemeinden kümmerten. In Tübingen setzte Victor
Marx, der sechs Konzentrationslager überlebte hatte, noch 1945 auf dem
jüdischen Friedhof in Wankheim einen Gedenkstein mit den Namen der aus
Tübingen und Reutlingen ermordeten Juden (56). "Dies sind die
Opfer der Gemeinde Tübingen, welche von den Nazis gemordet wurden"
lautet die Inschrift. Im Gegensatz zu den meisten Gedenksteine der
folgenden Jahrzehnte nennt sie die Täter beim Namen und flüchtet sich
zur Bezeichnung des gewaltsamen Todes nicht in ungenaue, poetische
Umschreibungen.
Auch der Text des bereits 1946 aus den Resten der zerstörten
Konstanzer Synagoge gesetzten Erinnerungsmals benannte die Täter: "Hier
stand die in den Jahren 1881-1883 von der israelitischen Gemeinde
Konstanz errichtete Synagoge. Am 10. November 1938 wurde sie von der SS
der NSDAP niedergebrannt." Soviel Direktheit kollidierte mit dem
vorherrschenden Wunsch nach Verdrängung und Nichtwahrhabenwollen. So
wurde die Texttafel bald demoliert und der Gedenkstein aus dem
Stadtzentrum ins Abseits des jüdischen Friedhofs versetzt, der
Synagogenplatz aber wurde wie viele andere auch mit einem Wohn- und
Geschäftshaus überbaut. Zu einem ähnlichen Vorgang kam es in Heidelberg,
in Stuttgart wurde das erste Erinnerungsmal 1947 gleich gar nicht erst
am Platz der ehemaligen Synagoge errichtet, sondern auf dem
israelitischen Teil des Pragfriedhofs.
Erst in den 60er Jahre fand sich die Tätergesellschaft, angestoßen
unter anderem durch den Ulmer Einsatzgruppenprozeß und den
Auschwitz-Prozeß, dazu bereit, die Verbrechen an den Juden während der
NS-Zeit wahrzunehmen und sich mit ihnen auseinander zusetzten. In der
Folge kam es zu einer Welle von Denkmalssetzungen am Ort ehemaliger
Synagogen. Zu den frühesten Denkmalen gehören die Steine, die 1958 in
Gailingen, Laupheim und Ulm am Ort der zerstörten Synagogen errichtet
wurden (57). Seit 1961 erinnert auch die Gemeinde Buttenhausen
mit drei Steinen an die "ermordeten jüdischen Brüder und Schwestern".
Der Text enthüllt neben emotionaler Betroffenheit wie bei nahezu allen
Inschriften dieser Phase eine große Hilflosigkeit. Meist identifizierte
man sich mit den Opfern und blendete in ungenauen passivischen Wendungen
die Täter und Nutznießer aus. "Hier stand die Synagoge der
Israelitischen Gemeinde randegg. Sie wurde am 10. Noember 1938 unter der
Herrschaft der Gewalt und des unrechts zerstört", so lautet die
Inschrift an vielen Synagogenorten in Baden. Insbesondere die
beunruhigende Tatsache, selbst zur Seite der Täter, Nutznießer oder
Zuschauer zu gehören, wurde nicht wahrgenommen. So konnten denn auch
trotz der in dieser Zeit entstehenden Gedenkrituale noch erschreckend
viele Synagogen und andere Gebäude der zerstörten jüdischen Gemeinden
abgerissen oder in Wohnungen, Kinos und Feuerwehrhäuser umgewandelt
werden. In Laupheim wurde noch 1970 die hundert Jahre alte jüdische
Schule eingeebnet.
Die gehäufte Verwendung jüdischer Symbole wie Davidstern, Menora oder
Gesetzestafeln auf diesen Gedenksteinen zeigt ebenfalls, daß das
Erinnern aus der Perspektive der Opfer, und nicht aus der eigentlich
zutreffenden Perspektive der Täter und Mitläufer erfolgte.
Bis in die späten siebziger Jahre hielt diese Form der Tabuisierung
der Vergangenheit an, an der viele der damals amtierenden Politiker noch
aktiv teilgenommen hatten. Das "Verschwinden der Taten im Gedenken"
zeigt sich auch daran, daß vielerorts Gedenksteine aufgestellt wurden,
die ohne Unterscheidung der Opfern von den Tätern summarisch "den Opfern
aller Kriege" gewidmet waren, und damit den staatlich angeordneten
Völkermord einem "normalen" Krieg gleichstellten. Nicht selten wurde das
Gedenken durch entsprechende Bibelstellen in einen christlichen
Zusammenhang gehoben. Konnte eine Gedenktafeln nicht unmittelbar am Ort
der Synagoge angebracht werden, brachte man sie gerne an benachbarten
Kirchen an, ohne dabei die fatale Nähe zur antijudaistischen Tradition
der Kirche- und Synagoge-Darstellungen an mittelalterlichen Kirchen zu
bedenken. An einigen Orten wurde der Ort der zerstörten Synagoge sogar
mit einer christlichen Kirche überbaut, in Laupheim gegen den Rat eines
überlebenden Mitglieds der vernichteten jüdischen Gemeinde.
Mancherorts verhinderte diese Haltung einen Gedenkort bis in die 70er
Jahre. Noch 1966 erinnerte nach Paul Sauer nur in fünf Fällen ein
Gedenkmal an die zerstörte Synagoge. In Tübingen dauerte es bis 1978,
bis auf Druck der Öffentlichkeit an einem alten Dorfbrunnen neben dem
Platz der zerstörten und abgerissenen Synagoge, der mittlerweile mit
einem Wohnhaus überbaut worden war, eine Gedenktafel angebracht wurde.(58)
Ihr Text lautete: "Hier stand die Synagoge der Tübinger jüdischen
Gemeinde. Sie wurde in der Nacht vom 9./10. November 1938 wie viele
andere in Deutschland niedergebrannt." Heftige Kritik an der Inschrift,
die weder Täter erwähnt noch den NS-Zusammenhang herstellte, führte ein
Jahr später zu einer Zusatztafel: "Zum Gedenken an die Verfolgung und
Ermordung jüdischer Mitbürger in den Jahren 1933-1945."
Außerhalb des Stadtzentrums gelegen, zudem als Stellplatz für
Fahrräder und Mülltonnen zweckentfremdet, erinnerte dieser Platz
niemanden an die ehemaligen Tübinger Juden und ihr zerstörtes religiöses
Zentrum. Erst der Abriß des Wohnhauses 1998 setzte die Diskussion wieder
in Gang, die vor allem um eine "würdige Gestaltung" des Gedenkortes
kreiste und mit der Auslobung eines Denkmalwettbewerbs endete.
Die Ausstrahlung der amerikanischen Fernsehserie "Holocaust" markiert
1979 den Beginn einer dritten Phase im Umgang mit der
nationalsozialistischen Vergangenheit, die nun überwiegend von der
zweiten Generation getragen wurde. In dieser Phase kam es zu einer
intensiven Beschäftigung mit dem NS vor Ort, lokale Gedenkstätten
entstanden und Gedenktage etwa zum 40. und 50 Jahrestag der
"Machtergreifung", "des Novemberpogroms" und des Kriegsendes wurden
bundesweit begangen. Neben dem Bemühen um neue Gedenkrituale und neue
künstlerische Formen für das Gedenken auch bislang nicht beachteter
Opfergruppen wie Homosexuelle, Sinti und Roma, Kriegsdienstverweigerer
etc., bemühte man sich in dieser Phase erstmals auch um den Erhalt
zweckentfremdeter Synagogen, die wie in Hechingen oder Affaltrach zu
Gedenkstätten umgebaut wurden. Weiterhin wurden aber auch traditionelle
Denkmale gesetzt und Gedenktafeln angebracht (siehe folgende Übersicht).
Viele waren sehr allgemein gehalten. Aus Anlaß der Gedenktage gesetzt
erinnerten sie allgemein an die Zeit des nationalsozialisitscher
Unrechtsstaates. Die Tübinger Stadtverwaltung etwa ließ zum 50.
Gedenktag an die Machtübernahme der Nationalsozialisten an zentraler
Stelle eine Tafel setzten, die an die "Verpflichtung, dem Rassenhaß und
der Unduldsamkeit zu wehren" mahnt (58).
Ihr kleines Format ließ die Tafel jedoch für niemanden zum Stein des
Anstosses werden, auch nicht zu einem Ort des offiziellen Gedenkens. Die
Mahnaktionen verschiedener Gruppen suchten sich andere Plätze, einen
jeweils eigenen Gedenkort für ihre "vergessene Opfer". Das zeigt, daß
zwar das Gedenken individuell und zunehmend auch institutionell
verankert wurde. Es geriet dabei aber auch in Gefahr, ein Stück weit
seine kulturelle Verbindlichkeit zu verlieren. In Tübingen nahmen solche
Gedenkaktivitäten oft ihren Ausgang am Anatomiegräberfeld auf dem alten
Stadtfriedhof. Die dortige Gedenkstätte, die zwar an politisch
Verfolgten und Euthanasie-Opfer erinnert, dennoch immer wieder mit
jüdischen Gewaltopfern in Zusammenhang gebracht worden war, vereint in
sich alle Ausformungen der Erinnerungs- bzw. Verdrängungsarbeit in den
verschiedenen Phasen. Schon vorhandene Erinnerungsmale in Form von 3
Kreuzen aus den 50er Jahren wurden in den 60er Jahren durch einen
Gedenkstein, 1980 zusätzlich durch sechs Bronzeplatten mit den annähernd
600 Namen von dort begrabenen NS-Opfer ergänzt. Als Ende der 80er Jahre
eine Debatte um die Rolle der Medizin im "Dritten Reich" entbrannte und
gezielt nach der Rolle der Präparate in der Anatomie gefragt wurde,
bestattete die Universität 1990 sämtliche noch vorhandenen Präparate von
NS-Opfern und setzte einen weiteren Gedenkstein, der - wenn auch noch
immer reichlich unbestimmt - auf die Verantwortung Tübinger
Wissenschaftler für die Verbrechen in nationalsozialistischer Zeit
hinweist. Nachdem wenig später diese Gedenkstätte das Ziel
rechtstradikaler Gewalttaten wurde, informiert heute zusätzlich eine
Texttafel darüber, daß unter den dort Bestatteten ein großer Prozentsatz
ist, die aus rassischen, sozialen oder politischen Gründen in der
NS-Zeit gewaltsam um ihr Leben gebracht worden waren und anschließend,
z.T. bis in die achtziger Jahre der Wissenschaft in Form von
Anatomiepräparaten zur Verfügung gestellt wurden.
Die Abfolge dieses immer wieder neu überformten Gedenkens macht
deutlich, daß mit wachsendem Abstand von der NS-Zeit Erinnern und
Gedenken erst einmal Information voraussetzen. Die
Erinnerungsaktivitäten verlagern sich deshalb von allgemeinen
Gedenkorten zu Lernorten und "aktiven Gedenkstätten".
Mit dem Fall der Mauer begann noch einmal eine neue Phase in der
Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit. Sie ist nicht nur dadurch
gekennzeichnet, daß in der neuen Bundesrepublik nun zwei Traditionen des
Umgangs mit der Vergangenheit existieren. Unübersehbar ist auch die
Suche nach neuen und eigenen Formen des Gedenkens und das Bemühen, nun
auch den zeitlichen Abstand und die "nachträgliche Wirksamkeit" der
Verbrechen mitzureflektieren. Beispielhaft dafür steht die gerade
abgeschlossene Renovierung der Baisinger Synagoge, die nicht in den
Zustand vor der Zerstörung von 1938 zurückgeführt wurde, sondern bewußt
auch die Spuren der Zerstörung und Umnutzung nach 1945 bewahrt. Wie
andernorts ermöglicht auch hier eine museale Dokumentation der Baisinger
jüdischen Gemeinde über das Gedenken hinaus eine aktive
Auseinandersetzung mit dem Geschehen. Mittlerweile gibt es 33 solcher
Gedenkstätten für Opfer des Nationalsozialismus in Baden-Württemberg,
wenn auch mit sehr unterschiedlichen Möglichkeiten zu aktiver Arbeit. 60
Jahre nach dem Novemberpogrom scheint damit - trotz aller negativer
Ausnahmen - die Verankerung des Nationalsozialismus im kulturellen
Gedächtnis der bundesrepublikanischen Gesellschaft gesichert zu sein.
Abgeschlossen ist sie deswegen noch lange nicht und kann es auch nie
sein. verankert zu sein. Es bleibt die Aufgabe jeder neuen Generation,
dieses Gedächtnis wach zu halten und auf die jeweilige Gegenwart zu
beziehen.
JURISTISCHE AUFARBEITUNG NACH 1945
Eine wichtige Quelle zur Erforschung der Abläufe in der Pogromnacht
sind die Gerichtsakten der zahlreichen Prozesse wegen Landfriedensbruch,
Brandstiftung, Körperverletzung etc. in den Anfangsjahren der
Bundesrepublik, in denen vor allem die lokalen Protagonisten angeklagt
waren. Minutiös werden mit den Mitteln der Justiz die Vorgänge
rekonstruiert: Dabei wurden viele Entlastungsmuster deutlich, wie z.B.
die immer wieder aufgestellte Behauptung, die Täter seien nur von
auswärts gekommen. Entgegen der Berichte von Laupheimer Zeitzeugen,
wonach die Brandstifter dort auswärtige SA-Leute gewesen waren, waren es
im Laupheimer Synagogenprozeß vom März 1948 neunzehn Einheimische, die
vor dem Ravensburger Schwurgericht als Angeklagte standen. Die Leute,
die den Brand entfacht hatten, konnten jedoch dort so wenig ausfindig
gemacht werden, wie in dem von Buchau. Die eigentlich Verantwortlichen,
so wurde festgestellt, waren im Krieg gefallen. Bei fast allen
Prozessen wurde die Tatsache, daß auf Befehl gehandelt wurde, als
strafmindernd gewertet, wobei als Befehlsgeber und Hauptverantwortliche
die höchsten Parteiführer der Reichsregierung betrachtet wurden, die
nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden konnten. Überall ist die
Tendenz zu beobachten, aus Anstiftern und Tätern Verführte und
Befehlsausführende zu machen. Fast immer fielen die Urteile wie das im
Buttenhausener Synagogenprozeß vom Oktober 1947 oder im Baisinger Prozeß
im gleichen Jahr milde aus.(39, 49, 53)
Erinnerungsmale für zerstörte Synagogen und vertriebene und ermordete
Juden in Baden-Württemberg
nach: Hahn, Joachim: Synagogen in Baden-Württemberg, Stuttgart 1987,
S.101/2.
1946: Konstanz
1946: Heidelberg
1958: Gailingen, Laupheim, Ulm
1959: Breisach, Ludwigsburg
1961: Sandhausen, Bad-Cannstatt
1962: Freiburg
1963: Karlsruhe
1964. Konstanz, Mosbach, Rastatt, Weinheim
1965: Mannheim-Feudenheim, Rust
1966: Bruchsal, Ettlingen, Münsingen-Buttenhausen
1967: Pforzheim, Philippsburg
1968: Emmendingen, Gottmadingen-Randegg, Öhningen-Wangen
1969: Ettenheim
1971: Crailsheim, Göppingen
1973: Müllheim
1976: Baden-Baden, Ladenburg, Lörrach, Wertheim
1977: Wiesloch-Baiertal
1978: Braunsbach, Offenburg, Öhringen, Schwetzingen, Tübingen,
Villingen-Schwenningen, Wiesloch
1979: Bretten, Eberbach, Hockenheim, Schwäbisch Gmünd
1980: Eppingen, Ihringen, Rottweil
1981: Bad Buchau, Freudental (G), Neckarbischofsheim, Weikersheim
1982: Horb-Mühringen
1983: Bad Mergentheim, Buchen, Bühl, Karlsruhe-Grötzingen, Kehl,
Ravenstein-Merchingen, Ravensburg, Talheim,
1984: Reilingen, Riesbürg-Pflaumloch, Waldshut-Tiengen, Michelbach,
Wallhausen (G), Affaltrach (G)
1985: Gernsbach, Heidelberg-Rohrbach, Königheim, Malsch, Schwäbisch
Hall, Walldorf, Weingarten, Eppingen (G in Mikwe)
1986: Dörzbach-Hohebach, Künzelsau, Künzelsau-Nagelsberg, Lichtenau,
Blaufelden-Wiesenbach, Hechingen (G)
1987: Hembsbach (G)
1992: Göppingen-Jebenhausen (G),
1993: Oberdorf (G), Haigerloch
1994: Buttenhausen (G in ehemaliger jüdischer Schule)
Kippenheim, Adelsheim-Sennfeld(G), Sulzburg (G),
1998: Laupheim (G), Baisingen (G), Gailingen (G)
(G) Gedenkstätte bzw. Museum
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