Richard von
Weizsäcker
Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die
Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von ihren Folgen betroffen und für
sie in Haftung genommen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen
verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wenn wir uns daran erinnern,
wie rassisch, religiös und politisch Verfolgte, die vom sicheren Tod
bedroht waren, oft vor geschlossenen Grenzen anderer Staaten standen,
werden wir vor denen, die heute wirklich verfolgt sind und bei uns
Schutz suchen, die Tür nicht verschließen. Wenn wir uns der Verfolgung
des freien Geistes während der Diktatur besinnen, werden wir die
Freiheit jedes Gedankens und jeder Kritik schützen, so sehr sie sich
auch gegen uns selbst richten mag. Bei uns ist eine neue Generation in
die politische Verantwortung hereingewachsen. Die Jungen sind nicht
verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich
für das, was in der Geschichte daraus wird. Die Bitte an die jungen
Menschen lautet: Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und
Haß gegen andere Menschen, gegen Russen oder Amerikaner, gegen Juden
oder Türken, gegen Alternative oder Konservative, gegen Schwarz oder
Weiß. Lernen Sie, miteinander zu leben, nicht gegeneinander.
(Aus: Ansprache des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker im
Plenarsaal des Deutschen Bundestages anläßlich des 40. Jahrestages der
Beendigung des Zweiten Weltkrieges; Bonn, den 8.5.1985)
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